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Friedrich Engels an eine Tochter von Karl Marx, über die Chancen der Sozialdemokratie nach den Reichstagswahlen (26. Februar 1890)

In der Reichstagswahl vom 20. Februar 1890 verlor das Bismarcksche Kartell der „staatserhaltenden“ Parteien seine Mehrheit, während die SPD einen großen Sieg errang. In einem Brief aus dem Londoner Exil an die Tochter seines alten Mitstreiters Karl Marx prognostiziert Friedrich Engels (1826-1895) freudig ein Ende der Stabilität des Bismarckregimes und letztlich den Beginn der deutschen Revolution.

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Meine liebe Laura,

Seit vergangenem Donnerstagabend, als eine Flut von Telegrammen mit den Siegesmeldungen hier eintraf, befinden wir uns in einem ständigen Siegestaumel, der heute morgen, vorläufig wenigstens, den Höhepunkt durch die Nachricht erreichte, daß wir 1 341 500 Stimmen erhalten haben, 587 000 mehr als vor 3 Jahren. Und dennoch – am nächsten Sonnabend kann die Orgie erneut beginnen, da das Staunen ganz Deutschlands über unseren Erfolg so gewaltig ist, der Haß gegen die Kartellschwindler so stark und die Zeit für Überlegung so kurz, daß neue Erfolge, ebenso unerwartet wie jene vom vergangenen Donnerstag, durchaus möglich sind, obwohl ich für meinen Teil nicht viele erwarte.

Der 20. Februar 1890 ist der Tag des Beginns der deutschen Revolution. Es mag noch ein paar Jahre dauern, bis wir eine entscheidende Krise erleben, und es ist nicht unmöglich, daß wir eine vorübergehende und ernsthafte Niederlage erleiden. Aber die alte Stabilität ist für immer dahin. Diese Stabilität beruhte auf dem Aberglauben, daß das Triumvirat Bismarck, Moltke, Wilhelm unbesiegbar und allweise sei. Jetzt ist Wilhelm gegangen und durch einen dünkelhaften Jardelieutenant ersetzt worden, Moltke ist pensioniert, und Bismarck sitzt sehr wacklig in seinem Sattel. Unmittelbar am Vorabend dieser Wahl hatten er und der junge Wilhelm eine Auseinandersetzung wegen dessen Gelüsten, den Freund der Arbeiter zu spielen. Bismarck mußte nachgeben und sorgte dafür, es die Philister wissen zu lassen. Offenbar wünschte er selbst »schlechte« Wahlen, um seinem Herrn eine Lektion zu erteilen. Nun, er hat mehr erhalten, als er erwartet hatte, und die zwei haben sich bis auf weiteres wieder einmal geeinigt. Doch das kann nicht von Dauer sein. Der »zweite Alte Fritz, nur größer« kann und wird es nicht ertragen, vom Kanzler an die Hand genommen zu werden. »In Preußen muß der König regieren«, das wird von ihm au serieux genommen, und je kritischer die Zeit, desto mehr werden die Ansichten dieser zwei Rivalen auseinandergehen. Eines ist für den Philister gewiß: der Mann, an den er glauben kann, verliert seine Macht, und der Mann, der die Macht hat, an den kann er nicht glauben. Das Vertrauen ist hin, selbst innerhalb der Bourgeoisie.

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