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Markt statt Regulierung (16. Dezember 1988)

Der Autor, Direktor des Frankfurter Instituts für wirtschaftspolitische Forschung, kritisiert die sozialpolitischen Reformen der Kohl-Regierung als unzureichend, da sie die Struktur des staatlich regulierten Sozialsystems bewahren und Besitzstandsdenken unterstreichen würden und plädiert dagegen für eine marktwirtschaftlich orientierte Strukturveränderung.

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Blüm setzt nicht auf Solidarität
Die tragfähige Neuordnung der sozialen Sicherungssysteme steht noch aus.



„Wer nicht reformiert, der ruiniert." So Norbert Blüm, der sich in der Tat einiges zu reformieren vorgenommen und es auch „durchgestanden" hat: Seine Änderungen der gesetzlichen Krankenversicherung werden am 16. Dezember abschließend vom Bundesrat behandelt, die der Rentenversicherung dürften im Frühjahr verabschiedet werden. Sich beiden undankbaren Notoperationen gestellt zu haben spricht für die Koalition und ihren zuständigen Minister. Aber reformiert er die Systeme wirklich, und stellt er sie auf eine tragfähige, zukunftssichere Grundlage? Die Antwort ist nein und liegt im Reformansatz selbst begründet.

Wer den Hebel an der falschen Stelle ansetzt, dem nutzt alle Kraftanstrengung nichts. Das gilt auch für Denkansätze. Die gegenwärtigen Reformversuche finden den Archimedischen Punkt schon deshalb nicht, weil sie einmal mehr den Menschen und sein Verhalten falsch einschätzen. Für Regelsysteme, die auf Dauer angelegt sind und fast ein ganzes Volk erfassen, ist dieser Irrtum tödlicher als jeder Rechenfehler. Die verhängnisvolle Automatik der entwirtschaftlichten staatlichen Zwangsversicherungen, bei denen die Kosten kollektiviert, die Nutzen hingegen individuell gezogen werden, ist hinlänglich bekannt: Die Aufwendungen für das Kollektiv explodieren, die Effektivität des Ganzen sinkt, der Schaden trifft alle.

An dieser mißlungenen Grundstruktur ändern die jetzigen Reformanläufe so gut wie nichts. Sie suchen selbst ihre bescheidenen Ziele – Beitragsstabilität und zwei Jahrzehnte Leistungsfähigkeit – nicht durch wirtschaftliche Anreize zu erreichen, die dem einzelnen schon im Eigeninteresse gemeinschaftsschonendes Verhalten nahelegen, sondern durch weitere bürokratische Beschneidung seiner Handlungsfreiheit. Anders ausgedrückt: Sie setzen nicht auf die Kräfte des Marktes, sondern auf „Solidarität". Solidarität? Vor einhundert Jahren, als es galt, den „hilfsbedürftigen Bevölkerungsklassen einen festumgrenzten Beistand in gewissen Wechselfällen des Lebens" zu geben, schuf „die gemeinsame Aufbringung der Mittel unter den Versicherten Solidarität und damit ein sittliches Hemmnis gegen gewissenlose Ausbeutung der Sozialversicherung". Doch seither haben sich Lebensbedingungen und Wertvorstellungen, Orientierungsmuster und die Systeme selbst bis zur Unkenntlichkeit verändert. Nur am Ordnungsprinzip „Solidarität" wird festgehalten, obwohl es Umfang und Art der Belastungen schon längst nicht mehr legitimieren kann und zum Synonym für die Ausbeutung der Versichertengemeinschaft durch ihre eigenen Mitglieder geworden ist. In Wirklichkeit setzt Blüm deshalb auch nicht auf Solidarität, sondern auf Zwang.

Jeder Einsichtige weiß: Markt statt Zwang, das wäre ein viel wirksameres Steuerungsmittel, das die Menschen selber bestimmen läßt, welche Prioritäten sie in ihrer Lebensführung setzen, wofür sie welche Beträge zahlen und ihre Mittel ausgeben wollen. Darauf lassen sich unserer Zeit gemäße Systeme der Gesundheits- und Alterssicherung aufbauen – in praktikabler Verbindung von Solidaritätsgedanke für die elementarsten Sicherungen und echtem Versicherungsprinzip für alles, was darüber hinausgeht. Aus den verschiedensten Teilen der Gesellschaft sind dem Gesetzgeber dazu solide wettbewerbsorientierte Vorschläge gemacht worden. Warum geht er daran vorbei?

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