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Ein neues Kapitel in der Wirtschaftspolitik (21. März 1962)

In dieser Rede, deren Tenor in den nächsten Jahren für Ludwig Erhards Wirtschaftspolitik wegweisend sein wird, appelliert der Bundeswirtschaftsminister an Vernunft und Bescheidenheit und betont die Notwendigkeit der Zusammenarbeit aller gesellschaftlichen Kräfte in wirtschaftlichen Fragen.

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Maßhalten! Rundfunkansprache


Ich wende mich an das deutsche Volk in einer ernsten Stunde, in der es gilt, durch ein verantwortungsbewußtes Verhalten sich schon abzeichnende gefährliche Entwicklungen rechtzeitig zu unterbinden, um Unheil von unserem Lande abzuwehren. Zwar bin ich mir dessen bewußt, daß solche Mahnungen gerade von denen, die sie am meisten beherzigen sollten, nicht gerne gehört werden, und ich bin darum auch darauf gefaßt, wieder einmal einer arbeitnehmerfeindlichen oder unternehmerfreundlichen Gesinnung verdächtigt zu werden. Jedermann kennt diese verlogene Platte.

Wer die Wahrheit nicht hören will oder nicht vertragen kann, versucht sie umzufälschen oder besser noch totzuschreien. Seit der Begründung der Bundesrepublik hat sich die weltpolitische Lage grundsätzlich gewandelt. Über die EWG hinaus rückt die Welt in offenen freien Märkten mit allen sich daraus ergebenden politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen immer enger zusammen. Die ständige Bedrohung Berlins läßt uns die Fragen unserer Freiheit und Sicherheit in einem neuen Lichte erscheinen. Dazu gehört auch die Fortentwicklung einer freiheitlichen und sozialen Gesellschaftsordnung, die mehr Gemeinsinn für Gemeinschaftsaufgaben erfordert.

Auch aus diesem Grunde muß das deutsche Volk – und ich meine da buchstäblich jeden einzelnen – wissen, wo wir stehen, ja, richtiger wäre es noch zu sagen, wohin wir taumeln und welche Gefahren uns bedrohen. Noch ist es Zeit, aber es ist auch höchste Zeit, Besinnung zu üben und dem Irrwahn zu entfliehen, als ob es einem Volke möglich sein könnte, für alle öffentlichen und privaten Zwecke in allen Lebensbereichen des einzelnen und der Nation mehr verbrauchen zu wollen, als das gleiche Volk an realen Werten erzeugen kann oder zu erzeugen gewillt ist, und daß es im Zweifelsfall nur der Androhung oder auch Anwendung von Macht und Gewalt bedürfe, diese Grenzen zu sprengen.

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Lassen Sie mich einmal so zu Ihnen sprechen, wie es jedermann verstehen und auch nachprüfen kann. Wir sind z.B. in bezug auf die Lohnhöhe innerhalb des Gemeinsamen Marktes im Jahre 1959 an die Spitze gerückt. Gleichwohl haben sich in den Jahren 1960 und 1961 die Lohnkosten bei uns, ohne Berücksichtigung der Arbeitszeitverkürzung, um 21% erhöht, während sich unsere übrigen Partner in dieser Zeitspanne mit Erhöhungen von 6 bis 13% begnügten. Die mächtigsten Industrieländer wie Großbritannien und die Vereinigten Staaten liegen – letztere mit nur 3% – noch darunter.

Wir haben offenkundig das Gefühl für das Mögliche verloren und schicken uns an, eine Sozialpolitik zu betreiben, die vielleicht das Gute will, aber mit Gewißheit das Böse – nämlich die Zerstörung einer guten Ordnung – schafft. So manches Mal frage ich mich wirklich, ob denn dieses deutsche Volk mit wachsendem Wohlstand immer weniger ansprechbar, immer weniger bereit ist, die Wahrheit zu hören. Wie sehr habe ich mich z.B. darum bemüht, mit der Währungsaufwertung des vergangenen Jahres deutlich zu machen, daß mit dieser Maßnahme – fernab der Bezeugung internationaler Solidarität – außenhandelspolitisch neue Daten gesetzt sind, die von der Kostenseite her einer Lohn- und Preissteigerung engere Grenzen setzen werden. Was aber geschah? Die Gewerkschaften erklärten – ich kann zu ihren Gunsten nur sagen, wider besseres Wissen –, daß sie das alles gar nichts anginge und es sie darum auch nicht hindern würde, ihre aktive Lohnpolitik unverändert fortzusetzen.

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