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Friedrich Naumann: „Was heißt Christlich-Sozial?” (1894)

Friedrich Naumann (1860-1919) war ein protestantischer Theologe und Politiker, der den Versuch unternahm, christliche Wertideen und liberale Demokratievorstellungen mit der industriellen Wirtschaftsordnung zu vereinbaren. Er bekämpfte die politisch konservativen Kräfte, deren Gedankengut vor allem in der Theologie des Antisemiten Adolf Stöcker zum Ausdruck kam. Naumann verband christliche und liberale Werte zu einer ganz eigenen Mischung. Er unterstützte die Gewerkschaften und die Arbeiterbewegung, weil er die sozialen Angelegenheiten der Unterschichten zum Gegenstand der Politik machen wollte. Gleichzeitig trat er für die Abschaffung des preußischen Wahlrechts ein, das die Stimmen der Vermögenden stärker gewichtete. Er gehörte 1910 zu den Gründern der Fortschrittlichen Partei und war 1918 an der Bildung der Deutschen Demokratischen Partei beteiligt, beides führende liberale Parteien in Deutschland.

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Selbstverständlich ist das Religiöse im Christlich-Sozialen nur die eine Seite. Das Wirtschaftliche muß aber in Harmonie zu ihm stehen. Wie gelangen wir zu einer christlich-sozialen Wirtschaftsauffassung? [ . . . ] Der erste Weg, den man uns empfiehlt, ist der, daß wir uns im allgemeinen auf einen konservativen Standpunkt stellen und von da aus in der Richtung der Sozialdemokratie einige Konzessionen machen, daß wir das „Berechtigte" anerkennen sollen. Was aber das Berechtigte an der Sozialdemokratie ist, bleibt bei diesem Verfahren eine ganz unklare Sache. Wichtiger jedoch ist folgender Einwand: das konservative Programm enthält keinen einzigen Satz für Angestellte, Abhängige, Gehilfen, Lohnarbeiter und Tagelöhner. Es ist ein Programm für Herren. Mitten in der sozial bewegten Zeit wird auf dem großen Tage von Tivoli mit keiner Silbe an die bedrängte Masse gedacht. Eine Partei, die so wenig an Arbeitslose, Mühselige und Beladene denkt, darf für eine Volksarbeit im Geiste Jesu nicht der Ausgangspunkt bleiben. Daran kann auch der Umstand nichts ändern, daß bei den Konservativen im allgemeinen das meiste kirchliche Verständnis angetroffen wird. Nicht Kirchlichkeit ist es, wonach wir dürsten, sondern Brüderlichkeit. Und weil nun die Zeit, wo die Christlich-Sozialen Zweige am konservativen Baume waren, für uns unwiederbringlich vorüber zu sein scheint, so liegt es nahe, das Wirtschaftsprogramm aus freier Luft, das heißt aus gewissen allgemeinen sittlichen Obersätzen entwickeln zu wollen. Man nimmt die Begriffe „Brüderlichkeit", „Gerechtigkeit", „Wert der Einzelperson", „Reich Gottes", „Eigentum", „Familie", „Arbeit", klärt sie, definiert sie und zieht aus ihnen schließlich ein möglichst greifbares Fazit. Diese Methode ist nicht ohne weiteres als wertlose Spekulation zu verwerfen. Eine derartige Gedankenarbeit ist nötig als Begleiterin unseres Fortschreitens. Die Wissenschaft der Ethik muß für die Christlich-Sozialen eine Fundgrube ihrer Ideen sein, aber man darf nicht in den Fehler einer unhistorischen Epoche verfallen und alles im Himmel und auf Erden durch Logik und Ethik konstruieren wollen. Wenn wir das täten, so würden wir das abstrakte System der Sozialdemokratie nur mit einem anderen ähnlichen Gedankengebäude vertauschen, und zwar wahrscheinlich, da der Ausgangspunkt idealistisch sein würde, mit einem Gedankengebäude, das noch weniger greifbaren Gehalt hätte, als die materialistische Konstruktion. Unsere Aufgabe ist es gerade, aus der sozialistischen Abstraktion hinaus, unter Anleitung der christlichen Ethik, auf den Boden der Wirklichkeit zu gelangen. In diesem Sinne sage ich im ersten Abschnitt: Wir müssen die wirtschaftlichen Gedanken genau an den Punkten weiterdenken, wo die Sozialdemokratie aufhört. Wir müssen von ihr die Fragestellung übernehmen: Was geschieht für die unterste Schicht des Volkes? Auf jedem Punkt müssen wir uns mit der Sozialdemokratie innerlich auseinandersetzen, um aus ihr herauszuwachsen, wie sie aus dem wirtschaftlichen Liberalismus herauswuchs. Schon in diesen Worten liegt, daß wir heute kein fertiges Programm haben können. Wenn wir es hätten, so wären wir nicht eine Richtung für die Zukunft, sondern im besten Falle nur eine für heute.

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