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Theodor Fontane an Georg Friedlaender über selbstsüchtigen Byzantinismus als Merkmal des Zeitalters (3. April 1887)

Bismarcks Fähigkeit, die politischen Parteien und Wahlen zu manipulieren, indem er eine Kriegsbedrohung heraufbeschwor, stellte sich im Winter 1886-1887 zur Genüge unter Beweis und trug zum Sieg des „Kartells der staatserhaltenden Parteien“ in der Reichstagswahl vom Februar 1887 bei. Einige Wochen später klagt Deutschlands größter Autor des literarischen Realismus, Theodor Fontane (1819-1898), über die Enge und Kleinkariertheit, die ihn allenthalben umgeben. Fontane hat kein gutes Wort übrig für die Arroganz des typischen preußischen Offiziers, den Appetit der Öffentlichkeit auf Nachahmung der neuesten Modeerscheinungen oder den „abstumpfenden Byzantinismus“, der während der langen Herrschaft Bismarcks entstanden sei. Selbst die deutsche Jugend, schreibt Fontane, sei nicht immun gegen diese Gefahren.

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Berlin

Im Ganzen leben wir in einer forschen und großen Zeit und ich danke Gott täglich, daß ich nicht bloß 1837, wo der Pegelstand am niedrigsten war, sondern auch noch 1887 erlebt habe; wir sind aus dem Elend, der Armut und Polizeiwirtschaft heraus, alles gut, aber neben unsrer neuen Größe läuft eine Kleinheit, eine Enge und Unfreiheit her, die die verachtete Stillstands- und Polizeiperiode der 20er und 30er Jahre nicht gekannt hat. Besonders die militärische Welt überschlägt sich; es ist der verwöhnte Sohn im Hause, der, weil er am besten reiten und tanzen kann, sich unter Zustimmung der Eltern alles erlauben darf. Der Rest der Welt, wenn er eine eigne Meinung haben will, ist nur dazu da, gescholten und verdächtigt, unter allen Umständen aber angepumpt zu werden. Von dieser militärischen Welt gilt in gesteigertem Maße das, was von der ganzen Zeit gilt: im Ganzen glänzend, im Einzelnen jämmerlich. Dabei mehren sich die Zeichen innerlichen Verfalls; Selbstsucht und rücksichtslosestes Strebertum sind an die Stelle feinen Ehrgefühls und vornehmer Milde getreten und während in den Herzen Rohheit und destruktive Ideen Fortschritte machen, zeigt sich nach außen hin ein toter, bei uns nie dagewesener Byzantinismus. Dabei wird die Jugend immer fachmäßig dummer, dem Hammel, der vorspringt, springen die andern nach und an die Stelle selbständigen Denkens ist Salamanderreiben und Nachplapperei getreten. Früher wurden Dinge „Mode“, die nur der eine mitmachte, der andre nicht, jetzt faßt ein Schlagwort oder gar eine „Parole“ die Menschen mit der Macht einer Epidemie, der sich der Einzelne kaum entziehen kann und die so lange dauert, bis ein bestimmter Teil der Gesellschaft „ausgeseucht“ ist. Aber schon ist eine neue Epidemie da und bemächtigt sich eines neuen Bruchteils der Gesellschaft.



Quelle: Theodor Fontane, Briefe an Georg Friedlaender, hrsg. und erläutert von Kurt Schreinert. Heidelberg 1954, S. 70-72, Auszug, S. 70-71.

Abgedruckt in Hans Fenske, Hg., Im Bismarckschen Reich 1871-1890. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1978, S. 380.

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