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Die ungesunde Ernährung des städtischen Arbeiters aus der Sicht eines bürgerlichen Sozialreformers (1890)

Mangelernährung wurde als eigentliche Ursache für viele Probleme unter den städtischen Arbeitern erkannt, nicht zuletzt für hohe Kindersterblichkeit und geringe Arbeitsleistung. In seinem Kommentar von 1890 bezeichnet ein bürgerlicher Sozialreformer schlechte Essgewohnheiten als „gemeingefährlich“. In einem für derartige Einschätzungen typischen herablassenden und anklagenden Ton kritisiert er die „unwirtschaftliche“ und „unvernünftige“ Auswahl von Lebensmitteln durch die Arbeiter. Er empfiehlt bessere Aufklärung, um so die Arbeiter in die Lage zu versetzen, gesunde und erschwingliche Lebensmittel zu kaufen.

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Der städtische Arbeiter lebt durchweg durchaus unrationell, er kauft für sein sauer erworbenes Geld minderwertige Nahrungsmittel und nährt seinen Körper völlig unzureichend, und das schlimmste dabei ist, daß er von der Verkehrtheit seiner Lebensweise nicht einmal eine Ahnung hat, weil er nicht darüber aufgeklärt ist, ja noch weiter, diejenigen, welche berufen wären, solche Aufklärung zu geben, wissen es zum größten Teil selbst nicht.

Die Behörden, Vereine u.s.w. fänden in dieser Richtung ein weites Feld ihrer Tätigkeit zur Bekämpfung solcher gemeingefährlichen Unkenntnis. Ich sage „gemeingefährlich“, weil ich überzeugt bin, daß die städtische Arbeiterbevölkerung bei dieser verkehrten Lebensweise allmählich körperlich wie geistig zurückgehen muß.

Der Körper muß notwendigerweise in seiner Entwicklung gehemmt werden, resp. zurückgehen, wenn ihm nicht die Nährstoffe wieder zugeführt werden, welche derselbe zur Entfaltung seiner vitalen Kräfte täglich gebraucht, besonders ist dies bei dem wachsenden Organismus der Fall, und ganz gewiß ist die große Sterblichkeit der Kinder der arbeitenden Klasse nicht zum geringsten Teil auf Konto der ungenügenden Ernährung derselben zu setzen.

Anderseits darf man sich nicht so sehr über die Stimmung in diesen Kreisen wundern, wenn man berücksichtigt, daß die Leute sich eigentlich nicht satt gegessen haben. Die Courage sitzt im Magen, bei leerem Magen fehlt Lust und Liebe zur Arbeit, daher kommt es, daß weder Mann noch Frau nach der Arbeitszeit auch nur die allernötigsten Reparaturen an Mobiliar und Kleidern vornehmen, um wenigstens das Leben äußerlich ein wenig ansehnlicher zu gestalten.

Man zeige dem Arbeiter, wie er sich besser und ausreichend ernähren und dabei noch Geld ersparen kann, man erleichtere ihm den Bezug von nahrhaften und dabei billigen Nahrungsmitteln (Seefische!), es wird ihm dadurch weit mehr genützt, als durch Zuweisung von Geschenken, welche obendrein noch oft genug in unrechte Hände gelangen, abgesehen davon, daß durch das Erbitten und Annehmen von Unterstützungen das Selbstgefühl der Betreffenden notwendigerweise leiden muß.



Quelle: Otto Rademann, Wie nährt sich der Arbeiter? Frankfurt am Main, n.d., S. 6-7.

Abgedruckt in Klaus Saul, Jens Flemming, Dirk Stegmann und Peter-Christian Witt, Hg., Arbeiterfamilien im Kaiserreich. Materialien zur Sozialgeschichte in Deutschland 1871-1914. Düsseldorf, 1982, S. 100-1.

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