GHDI logo


Doppelmoral: Eheliche Untreue unter Männern und Frauen (1886)

Die Doppelmoral bezüglich der Geschlechterrollen, der man im Hinblick auf das viktorianische England so viel Beachtung geschenkt hat, wurde auch im Bismarckreich viel diskutiert. In dieser Passage über eheliche Untreue geht der Verfasser davon aus, dass der Seitensprung eines Ehemanns zwar verwerflich sei, jedoch immer geringere soziale Auswirkungen habe als der einer Ehefrau. Diese Argumentation fußte darauf, dass man eine öffentliche Rolle (außerhalb der Familie) ausschließlich Männern zuschrieb. Vor diesem Hintergrund erscheint die Untreue von Frauen als „verwerflicher“, weil sie die fundamentalen Familienwerte untergrabe und nicht mit dem bestehenden Sittenkodex in Einklang zu bringen sei.

Druckfassung     Dokumenten-Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument

Seite 1 von 1


Nur in einem Punkte ist die Forderung, dass der Mann ebensowenig Freiheit haben dürfe, wie die Frau unbedingt zuzugeben, nämlich in der monogamischen Ehe, deren Wesen gleiche Treue von beiden Seiten und gleiche sittliche Beherrschung etwaiger instinktiver Velleitäten zur Untreue erheischt. Aber selbst hier bleibt die Wahrheit bestehen, dass die Verletzung der Treue von Seiten des Mannes und von Seiten der Frau einen ganz verschiedenen Grad der Missbilligung hervorruft, weil sie ganz verschiedene sociale Folgen nach sich zieht, weil die eine sich ausserhalb, die andere innerhalb der Familie vollzieht, weil die eine das Verhältniss der Kinder zu den Eltern und Geschwistern unberührt lässt, die andere es völlig zerstört oder doch durch Zweifel untergräbt. Der Mann einer notorisch untreuen Frau hat nur die Wahl, entweder Vaterpflichten gegen untergeschobene Bastarde zu üben, oder seine eigenen Kinder durch Scheidung mutterlos zu machen; kann er die Untreue nicht juridisch beweisen, so bleibt ihm nicht einmal diese Wahl, sondern er muss sich der empörenden Nothwendigkeit fügen, Kindern, die er nicht für die seinigen halten kann, Kindesrechte gegen sich einzuräumen. Schon der blosse Verdacht vergiftet das Familienleben, weil es immer das eigene Nest ist, das die etwaige Untreue der Frau beschmutzt. Dagegen lässt die Untreue des Mannes, weil sie ausserhalb des Kreises der Familie fällt, den Familienstand und die Stellung der Frau als Mutter und Hausherrin intakt, wenn sie auch den Rechten und Gefühlen der letzteren eine moralische, und möglicher Weise auch dem Familienwohlstand eine materielle Schädigung zufügt. Darum hat die gekränkte Frau freie Wahl, ob sie unversöhnlich auf ihrem formellen Recht der Scheidung bestehen, oder ob sie vergeben und ihren Kindern das gemeinsame Familienleben erhalten will; das Vergeben ist ohne Beeinträchtigung ihrer Würde möglich, was bei dem gekränkten Manne nicht der Fall ist, und darum hat allein die Frau das Vorrecht, sich mit der göttlichen Milde des Verzeihens zu schmücken, welche den Mann in gleicher Lage verächtlich macht.



Quelle: Eduard von Hartmann, Moderne Probleme. Leipzig, 1886, S. 41-42.

Abgedruckt in Jens Flemming, Klaus Saul und Peter-Christian Witt, Hg., Quellen zur Alltagsgeschichte der Deutschen 1871-1914. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1977, S. 220-21.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite