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Pluralisierung der Lebensformen (1995)

Seit den sechziger Jahren legt die Bundesregierung in regelmäßigen Abständen einen Bericht zur Lage der Familie in Deutschland vor. Im 5. Bericht wird eine Bestandsaufnahme der Haushalts- und Familienstrukturen im vereinten Deutschland vorgenommen. Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Entwicklung der Familienstrukturen zwischen Ost und West werden bilanziert.

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IV. Wandel des innerfamilialen Zusammenlebens
1. Einführung

De facto haben in der Bundesrepublik Deutschland während der letzten 10 Jahre die verschiedenen Familienformen quantitativ zugenommen. Geht man aber nicht von den letzten zehn, sondern vierzig Jahren aus, ist der statistische Trend nicht ganz so linear verlaufen, wie häufig unterstellt wird, sondern wellenförmig.

Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war durch eine besondere Hochschätzung der Familie gekennzeichnet, da diese nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus und der Not während der Nachkriegsjahre Orientierung und Stabilität versprach. Dennoch spiegeln sich selbst auf statistischer Ebene bis 1950 die Kriegs- und Nachkriegsauswirkungen wider, z. B. in der hohen Zahl von Scheidungen, von alleinerziehenden Müttern, von Stieffamilien und in den hohen Nichtehelichen-Quoten. Erst die Zeit von Anfang 1950 bis Anfang bzw. Mitte der 60er Jahre ist – statistisch gesehen – eine besonders familienbetonte Phase gewesen. Denn sie ist gekennzeichnet durch einen Anstieg der Eheschließungen, der Geburtenüberschüsse sowie durch eine Zunahme der Familien mit drei Kindern, ein Überwiegen der Drei- und Mehr-Personen-Haushalte und letztlich durch sehr geringe Ehescheidungsquoten. Das „bürgerliche Familienmodell“ der Hausfrauenehe war in jener Zeit – wie nie zuvor – stark verbreitet.

In den 60er Jahren setzte jedoch eine kulturelle Liberalisierung der Geschlechterbeziehungen ein, welche in Verbindung mit der Verfügbarkeit bequemerer und sicherer Mittel der Geburtenkontrolle und den wachsenden Ansprüchen der jüngeren Frauen auf Gleichberechtigung weitreichende Verhaltensänderungen unter den jüngeren Generationen auslöste. Ab Mitte der 60er Jahre ist diese Tendenzwende auch statistisch festzustellen: Die Eheschließungsneigung nahm ab, die Zahl der Zwei-Generationen-Familien mit einem Kind bzw. zwei Kindern nahm zu, ebenso die Scheidungszahlen und der Anteil der alleinerziehenden Familien.


Dominanz der traditionellen Familienform

Dennoch bleibt festzuhalten, daß die herkömmliche Zwei-Eltern-Familie (mit formaler Eheschließung) in unserer Gesellschaft trotz der zahlenmäßigen Zunahme anderer Familienformen (Ein-Eltern-Familien, Stief-Familien usw.) immer noch die quantitativ dominante Familienform ist (= 83 % aller Familien; errechnet aus den Angaben des Statistischen Jahrbuches 1992). Auch an subjektiver Wertschätzung hat diese Familienform keineswegs verloren (vgl. z. B. Köcher 1985; Schumacher 1988; Kaufmann 1990; Schneewind u. a. 1992). Jedenfalls für die Bundesrepublik Deutschland können wir aufgrund empirischer Untersuchungen sagen, daß – was die kinderlosen Ehen (Nave-Herz 1988a), die Ein-Eltern-Familien (Napp-Peters 1985; Nave-Herz/Krüger 1992) und die sog. Singles (Krüger 1990) anbetrifft – die Mehrzahl der Betroffenen ihre jetzige Lebensform nicht als bewußte alternative Lebensform zur traditionellen Eltern-Familie gewählt haben und daß diese zumeist eher als „verhinderte Eltern-Familie“ zu gelten hat.

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