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Kosmopolitismus und Patriotismus vermischen sich während der Fußballweltmeisterschaft (19. Juni 2006)

Ein Reporterteam beschreibt die Euphorie während der Fußballweltmeisterschaft, die 2006 in Deutschland abgehalten wurde und eine attraktive Nationalmannschaft, freundliche Gastgeber für die Besucher aus aller Welt sowie einen neu entdeckten Stolz auf die nationale Einheit und die historischen Errungenschaften einer stabilen Demokratie zur Geltung brachte.

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Deutschland, ein Sommermärchen

Wie in einem anderen Land: Hunderttausende in den Stadien, Millionen vor den Fernsehern und auf den Straßen feiern den Fußball und sich selbst – mit mediterranem Frohsinn und unverklemmtem, weltoffenem Patriotismus. Ob sich die Stimmung hält, wenn das Fest vorüber ist?


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Fußball herrscht derzeit über nahezu jeden Winkel des Landes. Er besetzt die Köpfe, die Herzen, er macht aus Deutschland ein anderes Land, wie in einem Sommermärchen, ein gebanntes, fröhliches, ein Land unter einem schwarzrotgoldenen Tuch. Seit dem 9. November 1989 hat es keine größere Party gegeben als diese. Damals feierten die Deutschen mit sich, jetzt feiern sie mit sich und der Welt.

Die vorläufig größte WM-Ekstase erlebte das Land am vergangenen Mittwoch, als die deutsche Mannschaft in Dortmund die Polen 1:0 schlug. Es war die perfekte Dramaturgie, ein langer Sturmlauf, ein ewiges Bangen und Hoffen und dann die Erlösung in der Nachspielzeit durch ein Tor von Oliver Neuville. Der Aufschrei danach war der wahrscheinlich lauteste, den die Bundesrepublik je gehört hat.

Nicht nur im Westfalenstadion wurde gejubelt und getanzt. Halb Deutschland hat sich vor den Großbildleinwänden versammelt. 500 000 sind es auf der Straße des 17. Juni, der Fan-Meile in Berlin. Kurz vor Anpfiff schließen die Veranstalter die Tore zum Heiligengeistfeld in Hamburg, 50 000 sind schon drin, 10 000 wollen noch rein. In Stuttgart verfolgen 70 000 Zuschauer die Liveübertragung vor dem Neuen Schloss, wo die Behörden ursprünglich nur 40 000 zulassen wollten. Autokorsos bringen den Verkehr auf dem Innenstadtring in Hannover zum Erliegen, die Tribünen am Frankfurter Main-Ufer werden wegen Überfüllung gesperrt.

Die Deutschlandfahnen, die in China produziert werden, sind nahezu ausverkauft. Adidas hat eine Million Trikots der deutschen Nationalmannschaft verkauft. Bei der letzten WM waren es 250 000. Deutschland trägt wieder Deutschland.

Das Land vibriert, es summt. Wer durch die Straßen geht, hört aus allen Fenstern die Stimmen der Fernsehkommentatoren, das Rauschen aus den Stadien.

Das Land ist bunt wie nie zuvor. Fahnen und Trikots aus 32 Ländern mischen sich in den WM-Städten zu einem Bild, das von weit oben aussehen muss wie eine impressionistisch gemalte Frühlingswiese.

Das Land ist netter denn je. Die Deutschen wollen gute Gastgeber sein und bemuttern ihre Gäste, wo sie können. Und das Land ist plötzlich cool. Zwischen Leipziger Bahnhof und Augustusplatz, auf einer Wiese, liegt Kirsten Bach mit ein paar Freunden und Freundinnen. Sie sind alle um die zwanzig, und fast alle tragen kleine aufgeschminkte deutsche Flaggen im Gesicht. Kirsten trägt ihre auf der Stirn, im linken Nasenflügel steckt ein Piercing, ein zweites sitzt am Bauchnabel. Sie trinken kein Bier, sondern Wasser, und statt irgendwelcher Schlachtgesänge driftet Lounge-Musik über das Gras. Vom Bahnhof nähert sich eine Frau mit einem riesigen Gummikondom auf dem Kopf und verteilt Probepackungen.

Kirsten sagt, sie und ihre Freunde seien nicht so sehr wegen des Fußballspiels hier, sondern wegen der Stimmung. Entspannt und locker sei es hier, ein bisschen wie im Hydepark in London oder in Amsterdam. Leipzig sei jetzt, sie sucht nach einem Wort, „metropolig”.

Zeigt man auf die deutsche Flagge auf ihrer Stirn und fragt man sie, ob sie stolz sei, eine Deutsche zu sein, antwortet sie: „Nö.”Fühlt es sich jetzt, während der Weltmeisterschaft, besser an, eine Deutsche zu sein? „Ja klar.”

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