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Friedrich Fabri, Bedarf Deutschland der Kolonien? (1879)

Der folgende Text wurde von Dr. Friedrich Fabri (1824-1891) verfasst, der als „Vater der deutschen Kolonialbewegung“ bezeichnet worden ist. Ab 1857 war Fabris Hauptberuf Direktor der Rheinischen Missionsgesellschaft in Barmen. Dass er tatsächlich nie eine einzige deutsche Kolonie besucht hatte, hinderte ihn nicht daran, sein Anliegen in dem Buch Bedarf Deutschland der Kolonien? eindringlich darzulegen, das ursprünglich Anfang 1879 veröffentlicht wurde. (Der unten wiedergegebene Text stammt aus der dritten Auflage vom Oktober 1883). Fabri neigte dazu, den Einfluss seines Buches bei der Ingangsetzung der Kolonialbegeisterung Anfang der 1880er Jahre zu überzeichnen; nichtsdestoweniger wurden er und sein Buch in den sozialen Kreisen viel diskutiert, die an der Kolonialbewegung teilnahmen, darunter Bankiers, Intellektuelle, Geschäftsleute und leitende Militärs. Am Beginn der vorliegenden Textpassage führt Fabri vorwiegend wirtschaftliche Argumente für eine energische Kolonialpolitik an. Im zweiten Teil betont er die Rolle, die Auswanderung in die Kolonien bei der Entschärfung der sozialdemokratischen Gefahr sowie für die „zivilisatorische Mission“ Deutschlands in der Welt spielen könnte.

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I.

Es dürfte nachgerade wirklich an der Zeit sein, die Frage: „Bedarf Deutschland der Colonien?“ zur öffentlichen Verhandlung zu bringen. Schon einmal, unter dem ersten Freudenrausch über das neu gebildete Deutsche Reich, im Jahre 1871/72, durchflogen unsere Presse flüchtige Rufe nach Colonien, die in ein Paar Brochuren bestimmtere Gestalt anzunehmen versuchten. Sowohl die Reichs-Regierung, wie die öffentliche Meinung verhielten sich damals ablehnend, so daß der schwache Anlauf rasch wieder verflogen war.

Heute liegen die Dinge wesentlich anders. Wie uns scheint, drängt Vieles auf die ernste Erwägung der vorstehend aufgeworfenen Frage; wie uns scheint, ist die öffentliche Stimmung in Folge unserer gesammten Entwicklung während der letzten Jahre gegenwärtig völlig geneigt, der Frage, ob dem Deutschen Reiche Colonial-Besitz noth thue, mit lebhafter Theilnahme sich zuzuwenden. Die Gründe für diesen Stimmungswechsel sind unschwer zu erkennen. Vornämlich drei Gesichtspunkte dürften in fraglicher Richtung bestimmend wirken: unsere wirthschaftliche Lage, die Krisis unserer Zoll- und Handels-Politik, und unsere sich mächtig entwickelnde Kriegs-Marine.

Wir sind nachgerade im neuen Reiche in eine wirthschaftliche Lage gerathen, die drückend, die wirklich bedenklich ist. Es ist ein leidiger Trost, daß die nun schon so lange währende Handels-Krisis mehr und minder auf allen Cultur-Staaten mit schwerem Drucke lastet. Deutschland ist verhältnißmäßig - wir lassen Rußland und Oesterreich hier außer Betracht - wohl in der ungünstigsten Lage. So mächtig der Wohlstand in den letzten Jahrzehnten bei uns gegen früher gewachsen ist, so sind wir doch im Ganzen noch arm, und die Kraft und der Nachhalt unseres nationalen Wohlstandes steht zu der politischen Machtfülle, die wir gewonnen haben, in einer erheblichen Dissonanz. Daraus dürften sich für die gesunde Weiter-Entwicklung unseres großen nationalen Gemeinwesens leicht beträchtliche Schwierigkeiten ergeben. Die Sache ist auch um so empfindlicher, da wir, als wir uns eben unter der Nachwirkung des Milliarden-Rausches sehr reich dünkten, plötzlich nachdrücklich an unsere Armuth erinnert wurden. Es ist mit Recht gesagt worden, daß Deutschland von der furchtbaren Katastrophe des dreißigjährigen Krieges erst in diesem Jahrhundert sich wirthschaftlich wieder erholt habe. Wir waren eben tüchtig daran, uns in den letzten Jahrzehnten heraufzuarbeiten, als kurz nach unserer nationalen Erhebung jene Geschäftsstockung begann, die nun Jahre währt und deren Ende noch nicht absehbar ist. Man wird annehmen dürfen, daß wohl fast ein Vierttheil unseres National-Vermögens in den letzten Jahren verschwunden, d.h. unproduktiv geworden ist. Und unser nationaler Wohlstand war im Ganzen noch schwach, es fehlte ihm die allmählig, aber stetig fortgehende Steigerung, die England seit zwei Jahrhunderten, die Holland, die Nord-Amerika, die auch Frankreich nach Ueberwindung der Erschütterungen der Revolutions-Epoche erfahren. Vom größten Einfluß auf unsere so ungünstig sich gestaltende wirthschaftliche Lage ist aber die rapid sich steigernde Vermehrung der Bevölkerung in Deutschland, eine Thatsache von der weitgreifendsten wirthschaftlichen Bedeutung, die aber als solche noch sehr ungenügend erkannt, zu deren Bewältigung daher so gut, wie nichts, bis jetzt geschehen ist. [ . . . ]

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