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„Der Alptraum der Koalitionen”: Bismarck über die anderen Großmächte (1879/1898)

Nach der deutschen Einigung 1871 glaubte Bismarck, dass die größte Bedrohung für Deutschland und den internationalen Frieden wahrscheinlich von Frankreich ausging. Daher tat er sein Möglichstes, um sicherzustellen, dass Frankreich diplomatisch so isoliert wie möglich und nicht in der Lage sein würde, einen breit angelegten Krieg auf dem Kontinent zu beginnen. Die logische Konsequenz dieses Ziels war Bismarcks Streben, enge und freundschaftliche Beziehungen zu den restlichen Führungsmächten zu unterhalten, namentlich zu Russland und Österreich. Die folgende Textpassage aus Bismarcks Lebenserinnerungen beinhaltet die berühmte Bezugnahme auf seinen „Alptraum der Koalitionen“ („le cauchemar des coalitions“). Die Platzierung dieser Passage in seinen Lebenserinnerungen legt nahe, dass diese Überlegungen aus den späten 1870er oder frühen 1880er Jahren datieren. Sie tragen zur Erklärung der wichtigsten diplomatischen Vereinbarungen Deutschlands in diesen Jahren bei.

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Graf Schuwalow* hatte vollkommen Recht, wenn er mir sagte, daß mir der Gedanke an Coalitionen böse Träume verursache. Wir hatten gegen zwei der europäischen Großmächte siegreiche Kriege geführt; es kam darauf an, wenigstens einen der beiden mächtigen Gegner, die wir im Felde bekämpft hatten, der Versuchung zu entziehn, die in der Aussicht lag, im Bunde mit andern Revanche nehmen zu können. Daß Frankreich das nicht sein konnte, lag für jeden Kenner der Geschichte und der gallischen Nationalität auf der Hand, und wenn ein geheimer Vertrag von Reichstadt ohne unsre Zustimmung und unser Wissen möglich war, so war auch die alte Kaunitzsche Coalition** von Frankreich, Oestreich, Rußland nicht unmöglich, sobald die ihr entsprechenden, in Oestreich latent vorhandenen Elemente dort an das Ruder kamen. Sie konnten Anknüpfungspunkte finden, von denen aus sich die alte Rivalität, das alte Streben nach deutscher Hegemonie als Factor der östreichischen Politik wieder beleben ließ in Anlehnung, sei es an Frankreich, die zur Zeit des Grafen Beust und der Salzburger Begegnung mit Louis Napoleon, August 1867, in der Luft schwebte, sei es in Annäherung an Rußland, wie sie sich in dem geheimen Abkommen von Reichstadt erkennen ließ.

Die Frage, welche Unterstützung Deutschland von England in einem solchen Falle zu erwarten haben würde, will ich nicht ohne Weitres im Rückblick auf die Geschichte des siebenjährigen Krieges und des Wiener Congresses beantworten, es aber doch als wahrscheinlich bezeichnen, daß ohne die Siege Friedrichs des Großen die Sache des Königs von Preußen damals noch früher von England wäre fallen gelassen worden.

In dieser Situation lag die Aufforderung zu dem Versuch, die Möglichkeit der antideutschen Coalition durch vertragsmäßige Sicherstellung der Beziehungen zu wenigstens einer der Großmächte einzuschränken. Die Wahl konnte nur zwischen Oestreich und Rußland stehn, da die englische Verfassung Bündnisse von gesicherter Dauer nicht zuläßt und die Verbindung mit Italien allein ein hinreichendes Gegengewicht gegen eine Coalition der drei übrigen Großmächte auch dann nicht gewährte, wenn die zukünftige Haltung und Gestaltung Italiens nicht nur von Frankreich, sondern auch von Oestreich unabhängig gedacht wurde. Es blieb, um das Feld der Coalitionsbildung zu verkleinern, nur die bezeichnete Wahl.

Für materiell stärker hielt ich die Verbindung mit Rußland. Sie hatte mir früher auch als sichrer gegolten, weil ich die traditionelle dynastische Freundschaft, die Gemeinsamkeit des monarchischen Erhaltungstriebes und die Abwesenheit aller eingebornen Gegensätze in der Politik für sichrer hielt als die wandelbaren Eindrücke der öffentlichen Meinung in der ungarischen, slavischen und katholischen Bevölkerung der habsburgischen Monarchie. Absolut sicher für die Dauer war keine der beiden Verbindungen, weder das dynastische Band mit Rußland, noch das populäre ungarischdeutscher Sympathie. Wenn in Ungarn stets die besonnene politische Erwägung den Ausschlag gäbe, so würde diese tapfere und unabhängige Nation sich darüber klar bleiben, daß sie als Insel in dem weiten Meere slavischer Bevölkerungen sich bei ihrer verhältnißmäßig geringen Ziffer nur durch Anlehnung an das deutsche Element in Oestreich und in Deutschland sicher stellen kann. Aber die Kossuthsche Episode*** und die Unterdrückung der reichstreuen deutschen Elemente in Ungarn selbst und andre Symptome zeigten, daß in kritischen Momenten das Selbstvertrauen des ungarischen Husaren und Advocaten stärker ist als die politische Berechnung und die Selbstbeherrschung. Läßt doch auch in ruhigen Zeiten mancher Magyar sich von den Zigeunern das Lied „Der Deutsche ist ein Hundsfott“ aufspielen!


* Graf Pjotr Andrejewitsch Schuwálow (1827-1889), russischer Botschafter in Großbritannien (1874-1879) – Hg.
** Kaunitz-Koalition: das Bündnis zwischen Österreich, Russland und Frankreich 1756 gegen Friedrich den Großen im Siebenjährigen Krieg – Hg.
*** “Kossuthsche Episode”: Lajos Kossuth (1802-1894), ungarischer Freiheitskämpfer, der 1848/49 erfolglos versuchte, eine unabhängige ungarische Republik zu gründen – Hg.

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