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Heinrich von Sybel beschreibt die Struktur des Deutschen Reichs und die Aussichten auf Freiheit (1. Januar 1871)

Heinrich von Sybel (1817-1895), der bei dem berühmten Leopold von Ranke studiert hatte, wurde selbst einer der bedeutendsten Historiker Deutschlands im 19. Jahrhundert. Sybel hatte Professuren an den Universitäten Bonn (1841-1846), Marburg (1846-1856) und München (1856-1861) inne, bevor er als Lehrstuhlinhaber nach Bonn zurückkehrte (1861-1875). Während seiner Zeit in München, der Hauptstadt des katholischen Bayern, bereitete ihm seine Unterstützung für Preußen und den Protestantismus Schwierigkeiten. Seit 1861 war er Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses und wurde 1867 als Nationalliberaler in den Reichstag des Norddeutschen Bundes gewählt. Den in Auszügen folgenden Aufsatz hatte er ursprünglich für die Ausgabe der Fortnightly Review vom 1. Januar 1871 verfasst. Damit erschien der Artikel nur zwei Wochen vor der Krönung des deutschen Kaisers am 18. Januar. In ihm erörtert Sybel die Unterschiede zwischen einer konstitutionellen Monarchie und einer parlamentarischen Demokratie. Aus seiner Sicht schneidet der konstitutionelle Aufbau des neuen Reichs im Vergleich zu dem Großbritanniens oder Frankreichs gar nicht schlecht ab, wenngleich er durch das Weiterbestehen der bundesstaatlichen Landtage neben dem gesamtdeutschen Reichstag Probleme sieht. Sybel gibt sich allerdings einem Wunschdenken hin, wenn er darauf spekuliert, dass der Kaiser nach der nächsten Wahl eine beträchtliche Zahl seiner Minister aus den Reihen der liberalen Reichstagsabgeordneten berufen würde. Auch vernebelt er die Tatsachen, indem er sowohl das Reichstagswahlrecht von 1867 als auch das preußische Landtagswahlrecht von 1850 als „rein demokratisch“ beschreibt. (Sybel hegte Misstrauen gegenüber dem allgemeinen Männerwahlrecht.) Er erwartet jedoch eine Ausweitung der Freiheit und des Wohlstands im neuen Reich.

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Aber ich höre bereits den Haupteinwurf. Dies Alles, sagt man, sei schön und gut, aber wie stehe es mit dem entscheidenden Punkte, der politischen Freiheit der Nation, oder, nach dem französischen Ausdrucke, mit dem gouvernement du pays par le pays?* Sei und bleibe nicht die Regierung des Königs oder des Kaisers, wenn gleich einsichtig, gemäßigt und erfolgreich, trotz alle dem ein gouvernement personnel?** Es würde nicht viel helfen, dagegen anzuführen, daß wir Parlamente haben, zwei für eines, ein deutsches und ein preußisches, daß wir für beide das allgemeine, und wenigstens für jenes auch das gleiche, directe und geheime Stimmrecht besitzen, daß die Regierung nur einen verschwindend kleinen Einfluß auf die Wahlen ausübt, daß sie seit dem Ende des Verfassungsstreits von 1862 sich an die vom Parlamente genehmigten Steuergesetze und Ausgabeetats bindet, daß sie überhaupt keine Gesetze ohne parlamentarische Zustimmung erläßt. Ohne Zweifel ist mit diesen Dingen eine Verwaltung schnurstracks gegen den deutlichen Willen des Landes auf die Dauer unmöglich. Aber nicht minder gewiß ist es freilich, daß das neue Reich kein verantwortliches Ministerium, und sein Parlament kein Recht zur Ministeranklage und zum jährlichen Erlasse einer Mutinybill*** besitzt, und daß der preußische Landtag außerdem das Recht der jährlichen Bewilligung der Staatseinnahmen, und jeden unmittelbaren Einfluß auf die Landesverwaltung entbehrt. Leider fehlen also die directen Mittel, ein ihm mißliebiges Ministerium aus dem Amte zu treiben. Bleibt ein ministerieller Antrag oder Gesetzentwurf in der Minorität, so ist der Antrag freilich beseitigt, aber kein Minister denkt deshalb daran seine Entlassung zu nehmen, oder seinem politischen Verfahren eine andere Richtung zu geben. Wir haben eine constitutionelle Monarchie, aber wir haben keine parlamentarische Regierung.



* Regierung des Volkes durch das Volk. (Alle Fußnoten stammen aus: Gerhard A. Ritter, Hg., Das Deutsche Kaiserreich 1871-1914. Ein historisches Lesebuch, 5. bearb. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1992, S. 35-39.)
** Persönliches Regiment.
*** Militärstrafgesetz. Anspielung darauf, dass in England das Militärstrafrecht jeweils nur für ein Jahr vom Parlament bewilligt wird, um zusammen mit der jährlichen Bewilligung der Ausgaben für das Heer zu erreichen, dass das Militär unter strikter parlamentarischer Kontrolle bleibt.

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