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Richard Wagner, Was ist Deutsch? (1865/1878)

Richard Wagner (1813-1883) war der bedeutendste Komponist und Dirigent der Bismarckzeit in Deutschland, wobei aber häufig in Vergessenheit gerät, dass er auch als Essayist tätig war. Er wuchs im Königreich Sachsen auf; ab 1831 studierte er in Leipzig Musik. In den späten 1830er Jahren und in den 1840er Jahren fungierte er als musikalischer Leiter in einer Reihe von Städten und lebte eine Zeit lang in Paris. In den 1840er Jahren kehrte er nach Dresden zurück und komponierte einige seiner größten Opern, darunter Der fliegende Holländer (1843), Tannhäuser (1845) und Lohengrin (1848). Wagner kämpfte während des Dresdner Maiaufstandes von 1849 auf den Barrikaden – an der Seite der Revolutionäre. Anschließend wurde er zur Flucht nach Paris und weiter gezwungen. In dieser Zeit schrieb er Aufsätze, in denen er seine Vision der Oper als Gesamtkunstwerk beschrieb. Außerdem verfasste er „Das Judentum in der Musik“ (1850), eine antisemitische Abhandlung, die 1869 erneut veröffentlicht wurde. Wagner fuhr fort, weitere Opern zu schreiben, darunter sein enormer, vierteiliger Opernzyklus Der Ring des Nibelungen. Um sein Publikum zum Rückzug aus den Ablenkungen der Großstadt zu ermuntern, wählte er die bayerische Kleinstadt Bayreuth als Standort für sein Festspielhaus, das im August 1876 mit der Uraufführung des Ringzyklus eröffnet wurde. Die Vorbemerkung, die Wagner für den folgenden Text schrieb, lässt darauf schließen, dass er 1865 begonnen und 1878 abgeschlossen wurde. Neben seinen antisemitischen Passagen beleuchtet der Aufsatz auch Wagners Wunsch nach einer einheitlichen deutschen Kunst – und mehr, nach einem deutschen Nationalbewusstsein.

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Aus dem Jahre 1865 fand sich, bei einer neuerlichen Untersuchung meiner Papiere, in zerstückelten Absätzen das Manuskript vor, von welchem ich heute den größeren Teil, auf den Wunsch des mir für die Herausgabe der »Bayreuther Blätter« verbundenen jüngeren Freundes?, der Veröffentlichung für unsre ferneren Freunde des Patronatvereines zu übergeben mich bestimmt habe.

War die hier vor mir stehende Frage: »was ist deutsch?« überhaupt so schwierig zu beantworten, daß ich meinen Aufsatz, als unvollendet, der Gesamtausgabe meiner Schriften noch nicht beizugeben mich getraute, so beschwerte mich neuerdings wiederum die Auswahl des Mitzuteilenden, da ich mehrere in diesen Aufsätzen behandelte Punkte bereits anderswo, namentlich in meiner Schrift über »deutsche Kunst und deutsche Politik«, weiter ausgeführt und veröffentlicht hatte. Mögen hieraus Mängel des vorliegenden Aufsatzes erklärt werden. Jedenfalls habe ich aber diesmal die Reihe meiner damals niedergelegten Gedanken erst noch zu schließen, und es wird dieser Schluß, welchem ich nun, nach dreizehnjähriger neuer Erfahrung, allerdings eine besondere Färbung zu geben habe, demnach mein letztes Wort in betreff des angeregten, so traurig ernsten Themas enthalten. –

Es hat mich oft bemüht, mir darüber recht klar zu werden, was eigentlich unter dem Begriffe »deutsch« zu fassen und zu verstehen sei.

Dem Patrioten ist es sehr geläufig, den Namen seines Volkes mit unbedingter Verehrung anzuführen; je mächtiger ein Volk ist, desto weniger scheint es jedoch darauf zu geben, seinen Namen mit dieser Ehrfurcht sich selbst zu nennen. Es kommt im öffentlichen Leben Englands und Frankreichs bei weitem seltener vor, daß man von »englischen« und »französischen Tugenden« spreche; wogegen die Deutschen sich fortwährend auf »deutsche Tiefe«, »deutschen Ernst«, »deutsche Treue« u. dgl. m. zu berufen pflegen. Leider ist es in sehr vielen Fällen offenbar geworden, daß diese Berufung nicht vollständig begründet war; wir würden aber dennoch wohl unrecht tun anzunehmen, daß es sich hier um gänzlich nur eingebildete Qualitäten handele, wenn auch Mißbrauch mit der Berufung auf dieselben getrieben wird. Am besten ist es, wir untersuchen die Bedeutung dieser Eigentümlichkeit der Deutschen auf geschichtlichem Wege.

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