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Friedrich Nietzsche zu Deutschlands Sieg über die Franzosen und den „Bildungsphilister”: Unzeitgemäße Betrachtungen (1873-76)

Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844-1900) übte eine enorme Wirkung auf die deutsche Philosophie des 19. Jahrhunderts aus und war einer ihrer originellsten und provokativsten Denker. Nach dem Studium der Theologie und Philologie wurde ihm 1869 im Alter von nur 24 Jahren eine Professur in Basel angeboten. Am Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 nahm er kurzzeitig als freiwilliger Krankenpfleger teil. Im Jahr 1879 sah er sich gezwungen, sein Lehramt in Basel aufgrund gesundheitlicher Probleme (er litt an einer Sehschwäche sowie häufigen Migräneanfällen) aufzugeben. 1889 erlitt er einen durch Syphilis verursachten Nervenzusammenbruch, von dem er sich nie mehr erholte. Der folgende Auszug stammt aus Nietzsches Unzeitgemäßen Betrachtungen, einer Reihe von Aufsätzen, die er kurz nach der deutschen Reichseinigung verfasst hatte. Der 1873 geschriebene Text trägt die Überschrift „David Strauss. Der Bekenner und Schriftsteller“. Strauss (1808-1874) war ein protestantischer Theologe und Philosoph, der 1872 ein Buch unter dem Titel Der alte und der neue Glaube veröffentlicht hatte. Nietzsche verspottete ihn als einen jener Bildungsphilister, die den Krieg wegen seiner Wirkung auf die deutsche Kunst und Moral priesen. Was Nietzsche am meisten ärgerte, war Strauss’ Selbstgefälligkeit. In einer Mischung aus Ironie und Empörung argumentiert Nietzsche in diesem Aufsatz, dass der deutsche militärische Sieg nichts mit Kultur zu tun habe, und dass eine einheitliche deutsche Kultur schlicht nicht existiere, ungeachtet aller gegenteiligen Beteuerungen durch Verfasser deutscher Prosa, Lyrik und Gesänge. Deutsche Kultur, erklärt Nietzsche, bestehe aus nichts anderem als einem „chaotischen Durcheinander aller Stile“. Er ist außerdem von der ersten Zeile an fest entschlossen, die „schlimmen und gefährlichen“ Folgen des Krieges zu benennen, besonders insofern, als sie von philisterhaften Deutschen verstanden – oder eben nicht verstanden – wurden.

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„David Strauss. Der Bekenner und Schriftsteller“

I.
Die öffentliche Meinung in Deutschland scheint es fast zu verbieten, von den schlimmen und gefährlichen Folgen des Krieges, zumal eines siegreich beendeten Krieges zu reden: um so williger werden aber diejenigen Schriftsteller angehört, welche keine wichtigere Meinung als jene öffentliche kennen und deshalb wetteifernd beflissen sind, den Krieg zu preisen und den mächtigen Phänomenen seiner Einwirkung auf Sittlichkeit, Kultur und Kunst jubilirend nachzugehen. Trotzdem sei es gesagt: ein grosser Sieg ist eine grosse Gefahr. Die menschliche Natur erträgt ihn schwerer als eine Niederlage; ja es scheint selbst leichter zu sein, einen solchen Sieg zu erringen, als ihn so zu ertragen, dass daraus keine schwerere Niederlage entsteht. Von allen schlimmen Folgen aber, die der letzte mit Frankreich geführte Krieg hinter sich drein zieht, ist vielleicht die schlimmste ein weitverbreiteter, ja allgemeiner Irrthum: der Irrthum der öffentlichen Meinung und aller öffentlich Meinenden, dass auch die deutsche Kultur in jenem Kampfe gesiegt habe und deshalb jetzt mit den Kränzen geschmückt werden müsse, die so ausserordentlichen Begebnissen und Erfolgen gemäss seien. Dieser Wahn ist höchst verderblich: nicht etwa weil er ein Wahn ist – denn es giebt die heilsamsten und segensreichsten Irrthümer – sondern weil er im Stande ist, unseren Sieg in eine völlige Niederlage zu verwandeln: in die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des deutschen Reiches.

Einmal bliebe immer, selbst angenommen, dass zwei Kulturen mit einander gekämpft hätten, der Maassstab für den Werth der siegenden ein sehr relativer und würde unter Verhältnissen durchaus nicht zu einem Siegesjubel oder zu einer Selbstglorification berechtigen. Denn es käme darauf an, zu wissen, was jene unterjochte Kultur werth gewesen wäre: vielleicht sehr wenig: in welchem Falle auch der Sieg, selbst bei pomphaftestem Waffenerfolge, für die siegende Kultur keine Aufforderung zum Triumphe enthielte. Andererseits kann, in unserem Falle, von einem Siege der deutschen Kultur aus den einfachsten Gründen nicht die Rede sein; weil die französische Kultur fortbesteht wie vorher, und wir von ihr abhängen wie vorher. Nicht einmal an dem Waffenerfolge hat sie mitgeholfen. Strenge Kriegszucht, natürliche Tapferkeit und Ausdauer, Ueberlegenheit der Führer, Einheit und Gehorsam unter den Geführten, kurz Elemente, die nichts mit der Kultur zu thun haben, verhalfen uns zum Siege über Gegner, denen die wichtigsten dieser Elemente fehlten: nur darüber kann man sich wundern, dass das, was sich jetzt in Deutschland Kultur nennt, so wenig hemmend zwischen diese militärischen Erfordernisse zu einem grossen Erfolge getreten ist, vielleicht nur, weil dieses Kultur sich nennende Etwas es für sich vortheilhafter erachtete, sich diesmal dienstfertig zu erweisen. Lässt man es heranwachsen und fortwuchern, verwöhnt man es durch den schmeichelnden Wahn, dass es siegreich gewesen sei, so hat es die Kraft, den deutschen Geist, wie ich sagte, zu exstirpiren - und wer weiss, ob dann noch etwas mit dem übrig bleibenden deutschen Körper anzufangen ist!

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