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Ein Schneider in einer pommerschen Kleinstadt (1870er Jahre)

Franz Rehbein (1867-1909) war ein Landarbeiter, dessen Hauptvermächtnis seine Autobiografie war – eines der seltenen persönlichen Zeugnisse über die Landarbeiterklasse im späten 19. Jahrhundert. Rehbeins Text wurde 1911 veröffentlicht, herausgegeben von dem früheren protestantischen Pastor und Sozialreformer Paul Göhre (1864-1928). In einem anderen Abschnitt des Texts erzählt Rehbein von seiner Arbeit auf einem norddeutschen Landgut, doch in dieser Passage beschreibt er seine schwierige Kindheit als Sohn eines Schneiders und einer Waschfrau in einer Kleinstadt der preußischen Provinz Pommern.

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AUS MEINEN KINDERJAHREN

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Mein Vater war Schneider. Ich sehe ihn noch vor mir, lang, hager, altmodisch; dabei seelensgut, leider aber schwach und kränklich – brustkrank nannten es die Nachbarn. Er selbst hörte es nicht ungern, wenn er »Meister« tituliert wurde.

Eine Werkstatt mit Gesellen und Lehrlingen hatte er freilich nicht. Das einzige Zimmer der kleinen Mietswohnung diente für unsere sechsköpfige Familie daheim gleichzeitig als Wohn- und Schlafraum, als Küche und – obendrein auch als Werkstatt meines Vaters. Hier saß er an seinem Tisch zwischen Lappen und Flicken und pickte und pickte von früh bis spät; Mutter half.

Zwar wurden damals – es war in den 70er Jahren – auch schon Nähmaschinen in Hinterpommern eingeführt, doch mein Vater hegte arges Mißtrauen gegen die »neumodischen Dinger«. Sein Zunftsprüchlein war: »Maschinenarbeit ist nichts gegen Handarbeit!« Vielleicht hätte er sich dennoch eines anderen besonnen, wenn die Nähmaschinen nicht gar so teuer gewesen wären.

So pickte er denn als »Handschneider« weiter, ein Jahr nach dem andern, für Ackerbürger, Arbeiter und auch für die Bauern der umliegenden Dörfer, immer in rastloser fleißiger Arbeit – bis er nicht mehr konnte. »Hier, hier sitzt’s«, sagte er bei den schweren Hustenanfällen keuchend und griff mit beiden Händen atemringend nach der Brust.

Für seine Familie sorgte er redlich, so wie die ärmlichen hinterpommerschen Verhältnisse es einem Kleinmeister eben gestatteten. Diese Verhältnisse aber zwangen von vornherein zur Dürftigkeit.

Geld hatte in jener industriearmen Gegend einen ungleich höheren Wert, wie in den modernen Industrieorten Westdeutschlands. Wer es in dem Städtchen zu einem Einkommen brachte, wie es etwa heute ein qualifizierter großstädtischer Arbeiter hat, der durfte sich ohne weiteres zu den »besseren Leuten« des Ortes zählen, er rangierte nolens volens in der Zahl der spießbürgerlichen Respektspersonen. Hieran kann man ungefähr ermessen, wie es mit den armen Schluckern bestellt sein mußte.

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