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Benedikt Kautskys Beschreibung der Konzentrationslagerhierarchie (Rückblick, 1961)

Der eigentliche Zweck der Konzentrationslager war generell nicht die Rehabilitation der Insassen, sondern deren Bestrafung durch Erniedrigung, Folter und wirtschaftliche Ausbeutung. Die standardisierte Brutalität der KZ-Aufseher garantierte, dass der Aufenthalt in einem Konzentrationslager oft zum Todesurteil für die Häftlinge wurde, die wegen ihrer angeblich feindlichen politischen, rassischen, sexuellen, religiösen oder sozialen Attribute nicht unter der allgemeinen Bevölkerung geduldet wurden. Die SS schuf grausame Hierarchien in den Lagern, da sie die Insassen in Gruppen höheren und niedrigeren Ansehens einteilte und somit die Konkurrenz um Überlebenschancen anstachelten. Indem sie verschiedene Gruppen gegeneinander ausspielte, schuf die SS ein äußerst wirksames Mittel der Selbstkontrolle und -regulierung unter den Insassen. Farbige Stoffdreiecke, die an der Häftlingskleidung befestigt wurden, markierten die einzelnen Insassen gemäß ihres Vergehens. So wurden politische Häflinge mit rot gekennzeichnet und als „Rote” bezeichnet. Kriminelle Insassen trugen grün, Juden gelb, Homosexuelle rosa, Sinti, Roma und „Asoziale” trugen Schwarz, und die Zeugen Jehovas waren durch lila gekennzeichnet.

Wie der folgende Bericht des ehemaligen KZ-Häftlings Benedikt Kautsky (1894-1960) veranschaulicht, hingen die Überlebenschanchen der Insassen in hohem Maß von ihrer Einstufung innerhalb der Lagerhierarchie ab. Kautsky selbst gehörte als Sozialist zu den politischen Gefangenen.

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Die Prominenz

Mit diesem Ausdruck bezeichnete das Lager die Aristokratie. In ihrem Rahmen gab es verschiedene Grade. Die Lagerältesten, der Capo der Schreibstube (in Auschwitz Rapportschreiber genannt), die Capos des Arbeitsdienstes, der Kammern (Effekten-, Bekleidungs-, Gerätekammer), der Post- und der Geldstelle, der Küche und der Kantine (sowohl für die Häftlinge wie für die SS), die maßgebenden Männer des Reviers (später Krankenbau genannt), aus der Kommandantur (Politische Abteilung, Photoabteilung usw.), dann einige «große» Blockälteste und Capos, vor allem bestimmter Werkstätten und wichtiger Kommandos, aber auch einige persönlich gut angeschriebene Leute (Kalfaktoren der Offiziere, unter Umständen auch Friseure oder Schneider) bildeten eine bunt gemischte Gesellschaft, die ihren Rang auf die verschiedensten Ursachen zurückführen konnten. Bei manchen war es tatsächlich die Tüchtigkeit, bei andern war es die Anpassungsfähigkeit an die SS oder an schon hinaufgekommene Häftlinge, die den Ausschlag gab. Man fand enorm fleißige und tüchtige Menschen neben faulen und unfähigen, die einen nützten ihr Amt schamlos für sich aus, andere blieben absolut integer.

In jedem Lager herrschte ein erbitterter Kampf in diesen Regionen. Da die Masse der Häftlinge ohne jeden Einfluß blieb, spielten sich diese Kämpfe nach Art der Palastrevolutionen ab. Intrigen der niederträchtigsten Art wurden unter Umständen in Szene gesetzt, wobei man sich keineswegs scheute, die SS in diese Verwicklungen hineinzuziehen. Auch kam es vielfach vor, daß die SS ihre Cliquenkämpfe mit Hilfe und auf dem Rücken der Häftlinge austrug.

Besonders hart und rücksichtslos waren die Kämpfe dort, wo Rote und Grüne um die Macht rangen. Selbstverständlich waren die Grünen völlig skrupellos in der Anwendung der übelsten Mittel. Mit Vorliebe ließen sie ihre Gegner «platzen», das heißt sie meldeten der SS angebliche oder wirkliche Verfehlungen und bewogen sie zum Einschreiten. Die Roten konnten natürlich die Antwort nicht schuldig bleiben, wenn sie sich auch meist auf ihre größere Tüchtigkeit und Sauberkeit berufen konnten. Dafür spielten ihre Gegner gern den Trumpf der politischen Unzuverlässigkeit aus, und der stach mehr als einmal.

Der Preis, der dem Gewinner winkte, war hoch. Zunächst einmal materiell: besser essen, besser wohnen, besser gekleidet sein, größere Freiheit in der Arbeit, Befriedigung kultureller Ansprüche auch inmitten der größten Not. Das lockte viele. Aber noch verlockender war der soziale Aspekt. Macht und Geltung wirkten unerhört stark, gerade in dieser Umgebung, die ganz darauf abgestellt ist, den Menschen zu unterdrücken. Natürlich konnte man sich nicht frei fühlen, aber die Unfreiheit empfand man viel weniger schwer, wenn man anderen befehlen konnte. Die Macht, die man ausübte, war ungeheuer groß und der soziale Unterschied zwischen dieser Oberschicht der Prominenz und der Hefe der Häftlinge krasser als der zwischen Bourgeois und Proletarier in einem demokratischen Staat.

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