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Ein kommunistischer Philosoph kritisiert den „real existierenden Sozialismus” der DDR (1977)

Da die DDR weder die Ausbeutung der Arbeiter noch das Wettrüsten beendet hatte, kritisierte der marxistische Philosoph Rudolf Bahro die post-stalinistische Variante des „real existierenden Sozialismus” innerhalb des Ostblocks. Er befürwortete die Gründung eines neuen Bundes der Kommunisten, um den anfänglichen revolutionären Geist wiederaufleben zu lassen.

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Die kommunistische Bewegung trat an mit dem Versprechen, die Grundprobleme der modernen Menschheit zu lösen, die Antagonismen der menschlichen Existenz zu überwinden. Die Länder, die sich selbst sozialistisch nennen, bekennen sich offiziell unverwandt zu diesem Programm. Aber welche Perspektiven tun sich den Menschen auf, wenn sie in der gegenwärtigen Situation ihre Blicke auf die Praxis unseres gesellschaftlichen Lebens richten? Ist in irgendeiner Weise abzusehen, wie die neue Ordnung ihre Überlegenheit durch eine effektivere Organisation und Ökonomie der Arbeit zur Geltung bringen will? Hat sie den versprochenen Durchbruch zur Humanisierung des menschlichen Zusammenlebens erreicht und schreitet sie – soweit er nicht vollendet ist – täglich darin fort? Was war das für ein besseres Leben, das wir schaffen wollten? War das nur jener mittelmäßige, in sich selbst perspektivlose Wohlstand, mit dem wir dem Spätkapitalismus so erfolglos den Rang abzulaufen suchen, seinen Vorsprung auf einem Wege, der nach all unserer überlieferten Überzeugung in den Abgrund führt? Wir wollten eine andere, höhere Zivilisation schaffen! Jene neue Zivilisation, die heute notwendiger denn je zuvor ist und deren Entwurf nichts mit der Illusion einer widerspruchsfreien »vollkommenen Gesellschaft« zu tun hat.

Einstweilen hat sich herausgestellt, wir bauen die alte Zivilisation nach, wir setzen in einem tiefsten, nicht politischen, sondern kulturellen Sinne einigermaßen zwanghaft, d. h. unter sehr realen Zwängen, »den kapitalistischen Weg« fort. Aus unserer Revolution ging ein Überbau hervor, der nur dazu gut zu sein scheint, dies so unentrinnbar systematisch und bürokratisch geordnet wie möglich zu tun. Wie eigentlich alle Beteiligten wissen, hat die Herrschaft des Menschen über den Menschen nur eine Oberflächenschicht verloren. Die Entfremdung, die Subalternität der arbeitenden Massen dauert auf neuer Stufe an. Völlig verstrickt in die alte Logik internationaler Großmachtpolitik und -diplomatie, verbürgt die neue Ordnung nicht einmal den Frieden – nicht zu verwechseln mit dem »Gleichgewicht der Abschreckung«, an dessen erweiterter Reproduktion sie aktiven Anteil nimmt. Sieht man auf das Verhältnis zwischen den Hauptmächten des real existierenden Sozialismus, so zeichnen sich apokalyptische Konturen ab. In der Sowjetunion scheint die liberale intellektuelle Opposition zumindest darin mit der Regierung einig, daß die strategische Hauptaufgabe des Landes in der industriellen und militärischen Aufrüstung Sibiriens besteht. Und China gräbt sich ein, es baut eine neue Große Mauer gegen den Norden, aber diesmal unter der Erde und allerorten.

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