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Europapolitik im Zentrum der deutschen Außenpolitik (24. Oktober 1966)

In einer Zeit, in der Frankreich nicht nur innerhalb der EWG, sondern im Verhältnis zu NATO und den USA eigene Wege ging, erinnert Walter Hallstein, Präsident der EWG-Kommission von 1958 bis 1967, in seiner Rede vor der deutschen Gruppe der Internationalen Handelskammer an die Bedeutung der europäischen Integration für die Bundesrepublik. Sie sei nicht nur für die Verankerung der Westbindung, sondern auch für die Lösung der deutschen Frage wichtig.

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Die politischen Bedingungen der deutschen Europapolitik von heute


Meine Damen und Herren!

Ich glaube, man kann die Entwicklung der heute zentral gewordenen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nur verstehen, wenn man sie im Zusammenhang sieht mit dem Vertragsnetz, mit dem die deutsche Außenpolitik unmittelbar nach der Gründung der Bundesrepublik es unternommen hat, wieder in die Familie der Nationen als ein leidlich geachtetes Mitglied einzutreten, und sich mit ihr so zu verflechten, daß dadurch für uns nützliche Interessenverbindungen entstanden. Es sind dabei zwei Typen von Verträgen abgeschlossen worden, Verträge des mehr klassischen Stils, also eines mehr lockeren Typus: nicht organisiert, ohne eigene Persönlichkeit, die durch Organe vertreten wird. Ich meine die OEEC, den Europarat, die Westeuropäische Union und die NATO. Alle diese Bindungen waren von Anfang an zeitlich begrenzt und eher dem traditionellen Typus der Allianz zugehörig. Das eigentlich Neue der Nachkriegsentwicklung war der Typus der integrierten Gemeinschaften: die Kohle- und Stahl-Gemeinschaft zunächst, die der Bahnbrecher war, die Europäische Atomgemeinschaft, die einen energie- und wissenschaftspolitischen Sonderfall betrifft, und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft.

Sodann, sie waren auf Dauer angelegt, irreversibel strukturell aufgebaut, wenn Sie pathetisch sein wollen, sollten sie eine ewige Verbindung föderalen Typs werden. Sie waren nur aus sechs Mitgliedern zusammengesetzt, weil sich eben nicht mehr als sechs Staaten bereit fanden, dieses große Abenteuer, das es ja damals war, einzugehen. Alle diese sechs Länder waren durch den Krieg an den Rand ihrer Existenz geführt worden. Das erklärt es auch, daß in diesen Ländern, und nur in ihnen, Männer aufstanden, die den Entschluß aufbrachten, es mit radikal neuen Lösungen zu versuchen. Es half zu dieser Vereinigung außerdem, daß die wirtschaftliche Interessenlage der sechs Länder leidlich homogen war, soweit sie es nicht war, daß sie in einem genügenden Maße komplementär war, um das Ganze mit der Chance auszustatten, ein dauerhaftes Gleichgewicht zu gewährleisten. Hinzu kam die Erkenntnis, daß eine moderne Volkswirtschaft auf lange Sicht nur noch als Großraumwirtschaft oder eingebettet in eine Großraumwirtschaft prosperieren kann. In Europa war nicht ein Staat übriggeblieben, der mehr als eine Mittelmacht gewesen wäre, der ein Machtsubstrat besessen hätte, das dazu ausreichte, Großmacht zu spielen. Demgegenüber standen zwei Mächte von kontinentalen Dimensionen: die Vereinigten Staaten von Amerika auf der einen und die Sowjetunion auf der andern Seite. Es gehörte nicht viel Phantasie dazu, zu erkennen, daß man nur überleben konnte, wenn man den Versuch mit Erfolg unternahm, es ihnen gleich zu tun. Im Zentrum dieser ganzen Bildung stand und steht und wird immer stehen die deutsch-französische Aussöhnung.

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