GHDI logo

Gustav Schmoller: Die soziale Frage und der Preußische Staat (1874)

Seite 2 von 3    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


So kann ich auch in der Sozialdemokratie nur das Jugendfieber der großen sozialen Bewegung sehen, in die wir eintreten. Unsere Sozialdemokratie ist etwas anders geartet, aber sie ist kaum schlimmer, als seiner Zeit der engliche Chartismus, und wird hoffentlich wie dieser, nur eine vorübergehende Phase der sozialen Entwicklung sein, die bald reiferen und klareren Bildungen, erreichbaren Plänen Platz macht. Gewiß sind ihr schwere Vorwürfe zu machen, besonders der, daß ein Teil der Führer immer nur an die schlechten Leidenschaften appelliert, an den Neid, den Haß, die wilde Begehrlichkeit, daß ebendieselben ein System der Verdächtigung gegenüber Personen verfolgen, wo sie die Institutionen angreifen sollten. Aber neben diesen leidenschaftlichen unehrlichen Führern hat sie auch solche, die persönlich höchst achtbar sind. [ . . . ]

Die öffentliche Meinung ist der Arbeiterfrage bei uns noch sehr wenig gerecht geworden. Hauptsächlich beeinflußt von der Seite her, welcher die soziale Bewegung zunächst Unannehmlichkeiten für den ruhigen behaglichen Gang des Geschäftslebens macht, ist sie überwiegend voreingenommen gegen den Arbeiterstand; die Leute, von welchen diese psychologisch ganz erklärliche Stimmung ausgeht, verhalten sich zur Arbeiterbewegung gerade so, wie die Bürokratie vor 1848 zu allen liberal konstitutionellen Forderungen. Wer einem unbequem wird, den hält man gar zu leicht für einen schlechten Kerl. Unsaubere Elemente gibt es überall. Um Beispiele ist man nicht verlegen und so kommt man dahin, Unglaubliches von der Roheit und Schlechtigkeit des Arbeiterstandes, von der Vortrefflichkeit ihrer Gegner zu reden.

Gewiß leidet heute der ganze Arbeiterstand daran, daß er in neue wirtschaftliche Verhältnisse eingetreten ist, für welche die sittlichen Vorstellungen und Bande, die Sitten der alten Zeit nicht mehr passen, für welche sich entsprechende neue noch nicht gebildet haben. Er weiß nicht recht, was er fordern kann und soll, was er mit seinem höheren Lohn anfangen soll, was er sich in seiner neuen Lage erlauben darf. Er befindet sich auf einem etwas unsicheren Boden – aber er gleicht hierin ganz den höheren Klassen. Das sittliche Schauspiel, das uns so viele über Nacht reich gewordene Gründer geben, scheint mir ganz dasselbe, wie das so vieler Arbeiter, die den gestiegenen Lohn nur in die Kneipe tragen. [ . . . ]

Der Arbeiterstand ist heute, wie jederzeit das, zu was ihn seine Schule und seine Wohnung, seine Werkstätte und seine Arbeit, sein Familienleben und seine Umgebung, zu was ihn das Vorbild der höheren Klassen, zu was ihn die Zeitideen, die Ideale und die Laster der Zeit überhaupt machen.

Ist vielleicht der Arbeiterstand allein, ist der einzelne Arbeiter daran schuld, daß er vielfach in Höhlen wohnt, die ihn zum Tier oder zum Verbrecher degradieren? Ist er daran schuld, daß die Kinder- und Frauenarbeit das Familienleben in diesen Kreisen mehr und mehr auflöst; ist er daran schuld, daß seine arbeitsgeteilte mechanische Beschäftigung ihn weniger lernen läßt, als früher der Lehrling und Geselle in der Werkstatt lernte, daß die moralischen Einflüsse der großen Fabrik so viel ungünstiger sind, als die der Werkstatt; ist er daran schuld, daß er nie selbständig wird, daß er in der Regel ohne Hoffnung für die Zukunft bleibt und lehrt nicht jede Psychologie, daß der Mangel jeder Aussicht für die Zukunft den Menschen schlaff und mißmutig oder zum Umsturz geneigt mache? Ist der Arbeiterstand daran schuld, daß er seine Schul- und technische Bildung besitzt, die nicht ausreicht, die ihn im Konkurrenzkampf so oft unterliegen läßt?

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite