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Volksschüler als Laufburschen und Hilfsarbeiter (1878-1890)

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II. Eingabe eines Pfarrers und Lokalschulinspektors an das Konsistorium in Greiz (1878)

Bittgesuch des Pfarrers zu Reinsdorf um Gewährung huldreicher Nachsicht bzgl. der nicht allseitigen Erfüllung § 2 der landesherrlichen Verordnung vom 24. Mai 1855, die Verwendung schulpflichtiger Kinder zur Arbeit etc. betreffend für einen hiesigen armen Schulknaben.

In der eingepfarrten, auf sächsischem Landesgebiet gelegenen Hammermühle ist vom damaligen Besitzer eine sogenannte Spinnmühle eingerichtet worden, bei welcher auch diesseitige Schulkinder zu dem ‚Wolle-Anlegen' außer den Schulstunden seitens desselben gerne verwendet werden.

Sobald ich durch den Lehrer davon Kunde erhielt, habe ich mich mit genanntem Besitzer in Vernehmen gesetzt und mußte ich einen eingestellten Knaben Franz Paul aus Schönfeld zu entlassen verlangen, da derselbe die § 2 der gedachten höchsten Verordnung gestellten Erfordernisse zu gewähren nicht vermochte. Denn derselbe hat zwar einen dreijährigen Schulunterricht genossen, auch das neunte Lebensjahr bereits überschritten, aber mit oder ohne eigene Verschuldung noch nicht völlig lesen gelernt, wie's jener § zur Bedingung macht.

Die Eltern, arme Webersleute, von der Hand in den Mund lebend, sind mit sechs Kindern gesegnet, deren ältestes jener elfjährige Knabe ist; sie brauchen wöchentlich für 6 Mark Brot trotz billigem Preise und vermissen daher schmerzlich die 2 Mark, die derselbe für seine Wochenarbeit in genannter Mühle zur Unterstützung heimbrachte, da der Vater in der mechanischen Weberei durchschnittlich nicht über 9 Mark per Woche zu erwerben und die Mutter, um der kleinen Kinder willen ans Haus gefesselt, nichts oder sehr wenig zu verdienen vermag.

Um nun der bedrängten Familie auch hierin die helfende Hand zu bieten und die Anknüpfungsfäden an die Sozialdemokratie nacheinander zu lösen und zu durchschneiden, habe in bewegter Angelegenheit der hohen Behörde ich ein Auskunftsmittel zu unterbreiten, von dem ich bereits schon jetzt erfreuliche Erfolge erzielt habe, nämlich das Mittel, den Knaben noch ferner bis Michaelis privat im Schreiben, Lesen und Rechnen wöchentlich etliche Stunden zu unterrichten, zu welcher Zeit er alsdann sämtlichen in genanntem § gestellten Bedingungen zu genügen mit Gottes fernerer Hilfe zu vermögen wird.

Hoch Sie wollen darum in huldvoller Erwägung dieses Auskunftsmittels gestatten, daß ich genannten Knaben schon jetzt das Zeugnis behufs baldiger Wiederaufnahme seiner abgebrochenen Arbeit in gedachter Spinnmühle einhändigen darf und zwar unter der ausdrücklichen Bedingung fortgesetzten fleißigen Schulbesuchs.



Quellen: Rudolf Schramm, „Kinderarbeit – ein dunkles Kapitel aus der Geschichte der Greizer Textilindustrie“, in Jahrbuch des Kreismuseums Hohenleuben-Reichenfels, H. 5, 1956, S. 103-4.

Abgedruckt in Klaus Saul, Jens Flemming, Dirk Stegmann und Peter-Christian Witt, Hg., Arbeiterfamilien im Kaiserreich. Materialien zur Sozialgeschichte in Deutschland 1871-1914. Düsseldorf, 1982, S. 224-25.

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