GHDI logo

François Mitterrand zur Frage der Wiedervereinigung (27. Juli 1989)

Seite 2 von 2    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Frage: Herr Präsident, könnten Sie sich vorstellen, daß die deutsche Frage ohne die Zustimmung aller europäischen Länder geregelt wird?

Antwort: Nein, nicht ohne die Zustimmung derer, die heute für die Anwendung der Verträge und die Sicherheit der Bundesrepublik sorgen. Die Deutschen müssen sich natürlich frei entscheiden können, aber das Einverständnis der Sowjetunion und der Westmächte erfordert einen echten Dialog.

Frage: Ist das seit Gorbatschows Besuch in Deutschland wieder viel diskutierte Selbstbestimmungsrecht der Völker der richtige Ansatz für eine Lösung?

Antwort: Eins steht auf jeden Fall fest: So unbestreitbar dieses Recht ist, es kann nicht zu einer Zangengeburt veranlassen, um mit den Medizinern zu sprechen. Zunächst müssen sich einmal die beiden, deutschen Regierungen einig sein. Keiner der beiden deutschen Staaten kann dem anderen etwas aufzwingen. Dieser deutsch-deutsche Aspekt ist von grundlegender Bedeutung. Die Regierenden der Bundesrepublik, denen ich begegnet bin, haben auch nie behauptet, über eine Verschärfung der Spannungen in Europa die Wiedervereinigung forcieren zu können.

Frage: Ist die Bundesrepublik nicht dabei, vom Westen abzudriften? Versucht sie nicht, eine Sonderrolle zu spielen, den sogenannten Sonderweg mit Blick auf Mitteleuropa und die Sowjetunion, trotz aller Risiken eines Neutralismus zu beschreiten?

Antwort: Ich stelle tatsächlich fest, daß diejenigen, die ein geübtes Auge für die Bundesrepublik haben, einen effektiven Meinungswandel vermerken. Persönlich kann ich das nicht beurteilen. Aber nichts deutet darauf hin, daß die politische Führung, die Regierung, der Bundeskanzler ihren Standpunkt geändert haben – allein schon nicht wegen der weiterhin regen Politik der Bundesrepublik in der Zwölfergemeinschaft.

Ich wiederhole, was ich bereits zur geographischen Lage und zur Geschichte Deutschlands sagte. Frankreich tendiert stets zu einer Mittelmeerpolitik wegen seiner Öffnung zum Mittelmeer, zu Afrika und dem Nahen Osten. Wer könnte Deutschland einen Vorwurf daraus machen, dem Osten, Polen, der Sowjetunion, der Tschechoslowakei sein Augenmerk zu schenken? Das zu einer großen Wirtschaftsmacht von Weltrang wiedererstarkte Deutschland möchte selbstverständlich auch eine größere politische Rolle spielen. Auch das ist nicht verwunderlich. Für mich gehört diese Gegebenheit mit zu der Vorstellung, die ich mir von der Europa- und Weltpolitik mache, und sie veranlaßt mich auch, Frankreichs Präsenz und Einsatz im Konzert der Nationen zu verstärken.



Quelle: François Mitterrand zur Frage der Wiedervereinigung, Süddeutsche Zeitung, 27. Juli 1989.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite