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Friedrich Engels an eine Tochter von Karl Marx, über die Chancen der Sozialdemokratie nach den Reichstagswahlen (26. Februar 1890)

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Betrachte nun die Lage der Parteien. Das Kartell hat eine Million Stimmen verloren, es hatte 2½ Millionen für und 4½ gegen sich. Diese Hauptstütze der parlamentarischen Macht Bismarcks liegt zerschmettert am Boden, and all the King's horses and all the King's men cannot put Humpty Dumpty together again. Um eine Regierungsmajorität zu bilden, gibt es nur zwei Parteien: die Katholiken (das Zentrum) und die Freisinnigen. Letztere, obgleich sie schon den brennenden Wunsch hegen, ein neues Kartell zu bilden, können dies – zumindest bis jetzt – nicht mit den Konservativen, sondern nur mit den Nationalliberalen, und das ergibt keine Mehrheit. Das Zentrum? Bismarck rechnet mit ihm, und die katholischen Junker dieser Partei brennen vor Begierde, sich mit den alten preußischen Junkern zu verbinden. Aber die einzige raison d'être des Zentrums ist: Preußenhaß, und nun versuch Du mal, daraus eine preußische Regierungspartei zu machen! Sobald sich das Zentrum nur im entferntesten dazu entwickelt, wird die katholische Bauernschaft – seine Hauptstärke – ausbrechen, während wir die 100000 Stimmen, die das Zentrum in den katholischen Städten, z. B. München, Köln, Mainz usw. weniger hatte (gegenüber 1887), übernommen haben.

Somit ist dieser Reichstag nicht arbeitsfähig. Aber Bismarcks letzte Zuflucht, eine Auflösung, wird ihm kaum helfen. Nachdem das Vertrauen in die Stabilität der Ordnung hin ist, ist jetzt die Unzufriedenheit mit den drückenden Steuern und der zunehmenden Teuerung des Lebensunterhalts der entscheidende Faktor. Das ist die direkte Konsequenz der Finanz- und ökonomischen Politik der letzten 11 Jahre, und damit hat Bis[marck] das Volk geradewegs in unsere Arme getrieben. Und Michel erhebt sich gegen diese Politik. So wird der nächste Reichstag wahrscheinlich noch schlimmer aussehen.

Es sei denn, daß Bismarck und sein Herr, bevor wir zu stark sind – in diesem Punkt werden sie sich immer einig sein – Aufruhr und Kämpfe provozieren und uns niederschlagen und dann die Verfassung ändern. Dem treiben wir offensichtlich entgegen, und das ist die Hauptgefahr, die vermieden werden muß. Unsere Leute, wie Du gesehen hast, halten ausgezeichnete, wundervolle Disziplin; doch wir könnten zum Kampf gezwungen werden, ehe wir ganz darauf vorbereitet sind – und darin liegt die Gefahr. Aber sollte es dazu kommen, dann wird es andere Faktoren zu unseren Gunsten geben.

Nims Essenglocke – darum auf Wiedersehen für heute – [ . . . ]

En attendant, vive la révolution allemande!

Immer Dein F. E.



Quelle: Friedrich Engels an Laura Lafargue, in Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Band 37. Berlin, 1967, S. 359-61.

Abgedruckt in Wilfried Loth, Das Kaiserreich. Obrigkeitsstaat und politische Mobilisierung. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1996, S. 189-91.

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