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Ludwig Bamberger über die Verlängerung des Sozialistengesetzes (1884)

Im April und Mai 1884 manövrierte die Furcht vor einer Reichstagsauflösung die deutschen Liberalen in die groteske Situation, die Verlängerung des Sozialistengesetzes zwar im Prinzip abzulehnen, insgeheim jedoch die Annahme der Regierungsvorlage zu betreiben. Der folgende Auszug aus den Tagebüchern Ludwig Bambergers (1823-1899) beschreibt die zu diesem Zweck von der Deutschen Freisinnigen Partei angewandten „wunderlichen“ parlamentarischen Winkelzüge. Bambergers Tagebuch vermittelt die komplizierte persönliche Dynamik innerhalb einer uneinheitlichen Partei, die kaum einen Monat zuvor gegründet worden war und im Januar 1884 mit Eduard Lasker (1829-1884) einen ihrer größten Parlamentsredner verloren hatte. Der Zusammenschluss der Liberalen Vereinigung mit der Deutschen Fortschrittspartei im März 1884 war von Eugen Richter (1838-1906) und Albert Hänel (1833-1918) arrangiert worden, teils, um den Linkstrend des deutschen Liberalismus seit 1878/79 rückgängig zu machen. Auch dieses Ziel ist bei den hier geschilderten Manövern zu erkennen. Obwohl Bamberger über Richters „unschuldsvollste Offenheit“ und „naive Umkehr“ schreibt, glaubt er mitnichten, dass Richter unschuldig oder naiv sei, sondern ein vollendeter Machiavellist.

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(April.) Wunderliche Kombination der Sozialistengesetz-Erneuerung. Bismarck schlägt sie vor mit Pathos und möchte sie um alle Welt abgelehnt haben, um auflösen zu können. Wir lehnen sie ab mit Pathos und möchten sie angenommen sehen, um nicht aufgelöst zu werden. Die Sitzungen der Kommission, in der ich sitze, das Verrückteste an Kombinationen. Windthorst [Zentrumsführer] schlägt Modifikationen vor, welche das Gesetz abschwächen und für die wir stimmen müßten, die Regierung lehnt alles ab, um ablehnen zu können. So lehnen wir auch schließlich ab, um Windthorst und die Seinen vor ein unmodifiziertes Gesetz zu stellen, welches das Zentrum ablehnen oder in integro annehmen muß und rechnen auf diese letzte Eventualität. Bei jeder Abstimmung die gelehrtesten Schachzüge. Wir schicken einen der Unseren weg, [um] in der Minorität bei der Schlußabstimmung zu bleiben. So wäre das Gesetz in der Kommission mit einer Stimme Mehrheit angenommen worden, wenn nicht Windthorst den Reichensperger, welcher bereits die Hand erhoben hatte, wieder herunter befohlen hätte, so daß Stimmengleichheit blieb, wonach das Gesetz abgelehnt.

Nun weiß noch kein Mensch, wie es in vier Tagen (Donnerstag) im Plenum gehen wird. Windthorst, welcher alle die Zeit her die Annahme des Gesetzes zu wünschen schien, scheint jetzt dagegen zu arbeiten. Er läßt durch Kabel die gegen stimmenden Arbeiter kommen (nachträglich wieder bezweifelt). Kein Mensch sieht durch, worauf er hinausgeht. Sollte er mit den Konservativen (Bismarck selbst?) verabredet haben, das Gesetz zu Fall zu bringen, wie sie es wünschen, um hinterher dafür belohnt zu werden?

Am schlimmsten stehen wir, da wir zu dem Kampf mit Bismarck und Windthorst auch noch den in der eignen neuen Fraktion, den Kampf mit Eugen Richter haben. Der spielt mit uns dasselbe Spiel wie Bismarck, nur in umgekehrter Richtung. Er wünschte, daß so viele als nötig für die Annahme stimmen; er tut aber, als sei dies ein Verbrechen. Er zittert am meisten vor der Auflösung (Lasker sagte mir immer, im entscheidenden Moment sei niemand furchtsamer als Richter) und schleudert gegen jeden, der sie vermeiden helfen will, das Anathema. Seine Rechnung nach außen geht auf die Stimmen der Sozialdemokraten in Stichwahlen. Während der Kommissionssitzungen vigiliert er immer scharf, ob die sozialdemokratischen Reichstagsmitglieder auch als Zuhörer da seien. [ . . . ]

Am Dienstag nach der Hauptabstimmung in der Kommission über das Sozialistengesetz halten wir Fraktions-Vorstandssitzung, um über die Taktik im Plenum der Fraktion zu beraten. Als Forckenbeck erklärte, er werde für das Gesetz stimmen mit einer motivierten Erklärung und Hänel das paraphrasierte, blieb Eugen Richter stumm in sich gekehrt sitzen. Wir redeten noch eine Zeitlang, ohne daß er sich regte. Endlich nach einer Verlegenheitspause erhebt er sich und verläßt schweigend das Zimmer.

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