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Julius Jolly, der frühere badische Ministerpräsident, über die Rechte und den Einfluss der Volksvertretung im System der konstitutionellen Monarchie (1880)

Ende der 1870er Jahre hatte Bismarcks zunehmend autokratisches Regiment klar gemacht, dass der Reichstag immerzu um Einfluss gegenüber der preußischen und der Reichsregierung zu kämpfen haben würde. In diesem Kommentar von 1880 argumentiert Julius Jolly (1823-1891), der frühere badische Ministerpräsident (1868-1876), dass keine Regierung auf Dauer gegen eine geschlossene Parlamentsmehrheit regieren könne. Jolly bezieht sich weder explizit auf den preußischen Verfassungskonflikt der frühen 1860er Jahre, der die Befürworter parlamentarischer Rechte gegen die Monarchie in Stellung brachte, noch schreibt er seine eigene Präferenz für Toleranz den starken liberalen Traditionen in Baden zu. Dennoch veranschaulicht Jollys Analyse, dass das konstitutionelle System in Deutschland auf früheren Kompromissen beruhte, darunter jenen, die im Zeitraum 1867-1871 zwischen Bismarck und den Liberalen im Reichstag geschlossen wurden. Nach Jolly waren auf beiden Seiten gesundes Urteilsvermögen und Respekt erforderlich, damit das Deutsche Reich überleben konnte.

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Mag aber bei dem Constitutionalismus, wie er sich bei uns entwickelt hat, die Regierung der Volksvertretung an sich unabhängig gegenüber stehen, so kann und soll sie doch nicht jeder Rücksichtnahme auf die Anschauungen derselben sich entschlagen. Die Rechte, welche nach dem Wesen des Systems der Volksvertretung zustehen, genügen selbst in ihrer engsten Beschränkung auf die Theilnahme an der Gesetzgebung und die Bewilligung der Staatsausgaben (nicht einmal auch der Einnahmen), um der Regierung diese Nöthigung aufzuerlegen. Sie kann stark genug sein, um durch einzelne, selbst mit großer Majorität gegen ihre Anträge gefaßten Beschlüsse der Volksvertretung nicht erschüttert zu werden; wenn sie aber dauernd und entschieden auf das Mißtrauen und die Gegnerschaft der parlamentarischen Mehrheit stößt, werden die von ihr für nothwendig oder zweckmäßig gehaltenen Gesetze nicht votirt, die für ihre Zwecke erforderlichen, nicht schlechthin unabweislichen Ausgaben nicht bewilligt werden, die Staatsmaschine geräth in’s Stocken und verzehrt, ohne ihre Aufgabe erfüllen zu können, ihre Kräfte in nutzloser Reibung. Das Ende eines solchen peinlichen, staatszerstörenden Zustandes kann nur sein Vernichtung des Constitutionalismus oder Berücksichtigung der Wünsche der Volksvertretung wenigstens so weit, daß der Regierung nicht mehr dauernd eine geschlossene gegnerische Majorität gegenüber steht. [ . . . ]

Vorübergehende Umstände, die über das gewöhnliche Maaß gesteigerte persönliche Autorität der Regierung, die Uneinigkeit der Partheien, eine momentane Nothlage können den Einfluß der Volksvertretung zeitweise zurückdrängen, auf die Dauer zu unterdrücken ist er nicht; er ist ein bleibender Factor in unserm Staatsleben, durch das ganze Wesen unsrer Verfassung mit solcher innerer Nothwendigkeit gegeben, daß er als zu derselben gehörig anerkannt werden muß. Indem die Krone die konstitutionelle Verfassung zuließ, hat sie nicht nur die thatsächliche Nöthigung sich auferlegt, sondern auch die politische Pflicht übernommen, auf das bei dieser Verfassungsform unentbehrliche Einverständniß mit der Volksvertretung bedacht zu sein und die von derselben vertretene politische Richtung zwar nicht ohne Weiteres und bis zu dem Grad als die entscheidende anzuerkennen, daß die Führer der Mehrheit an die Spitze der Regierung zu berufen wären, aber doch diese Richtung als ein Moment gelten zu lassen, das bei der vorbehaltenen eigenen Entschließung wesentlich in Betracht zu kommen habe.



Quelle: Julius Jolly, Der Reichstag und die Partheien, Berlin, 1880, S. 170-72.

Abgedruckt in Gerhard A. Ritter, Das Deutsche Kaiserreich 1871-1914. Ein historisches Lesebuch, 5. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1992, S. 52-53.

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