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Heinrich von Sybel an Hermann Baumgarten über die Reichsgründung (27. Januar 1871)

Die Proklamation des Deutschen Reiches am 18. Januar 1871 erfüllte ein Ziel, das die Liberalen seit Jahrzehnten verfolgt hatten – die nationale Einheit. Der äußerst emotionale Aspekt dieses Ereignisses geht aus diesem Brief Heinrich von Sybels (1817-1895), einem Altmeister der preußischen Geschichtsschreibung und nationalliberalen Abgeordneten, hervor, den dieser nur neun Tage nach der Kaiserproklamation in Versailles verfasste. Sybel bekannte seinem liberalen Kollegen Hermann Baumgarten (1825-1893) offen seine Freudentränen und sprach für unzählige andere Liberale, die den Anbruch eines neuen Zeitalters praktisch von einem Tag auf den anderen verkündeten. Doch gleichzeitig fragte sich Sybel, ob sich in Zukunft in Deutschland überhaupt ein weiteres liberales Ziel finden lasse, das ähnliche Anstrengungen lohne.

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Bonn, 27. Januar 1871

[ . . . ] Dem hiesigen Lazarettverein habe ich eine „öffentliche Vorlesung über ein patriotisches Thema“ zugesagt. Und dann kommen schon vorläufige Anfragen, ob ich ein Mandat zum ersten Deutschen Reichstag annehme, und der Teufel soll da Nein sagen.

Lieber Freund, ich schreibe von all diesen Quisquilien und meine Augen gehen immer herüber zu dem Extrablatt und die Tränen fließen mir über die Backen. Wodurch hat man die Gnade Gottes verdient, so große und mächtige Dinge erleben zu dürfen? Und wie wird man nachher leben? Was zwanzig Jahre der Inhalt alles Wünschens und Strebens gewesen, das ist nun in so unendlich herrlicher Weise erfüllt! Woher soll man in meinen Lebensjahren noch einen neuen Inhalt für das weitere Leben nehmen?



Quelle: Nachlaß Sybel

Abgedruckt in Julius Heyderhoff, Hg., Die Sturmjahre der preußisch-deutschen Einigung 1859-1870. Politische Briefe aus dem Nachlaß liberaler Parteiführer, Bd. 1. Bonn und Leipzig: Kurt Schroeder, 1925, S. 494.

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