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Veränderungen in der deutschen Umgangssprache (1884)

In seinen Äußerungen zur zeitgenössischen Sprachentwicklung – nicht in der Literatur, sondern im Alltag – hält der Kasseler Rechtsanwalt und liberale Parlamentarier Otto Bähr (1817-1895) die wichtigsten Änderungen der deutschen Umgangssprache fest: Abnahme französischer Begriffe, sich wandelnde Anredeformen, aufgeblähte Berufsbezeichnungen sowie andere Formen der Übertreibung. Wie Bähr feststellt, waren die Deutschen sehr darauf bedacht, feine Unterschiede zwischen Altersgruppen, Klassen, den Geschlechtern und denjenigen, die mehr oder weniger Autorität über andere Gesellschaftsgruppen ausübten, sprachlich angemessen auszudrücken.

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Zunächst war vor zwei Menschenaltern der Einfluß des Französischen auf unsere Volkssprache noch weit bemerkbarer als jetzt, mochte derselbe nun aus der französischen Richtung des vorigen Jahrhunderts übrig geblieben oder durch die französische Herrschaft dieses Jahrhunderts wieder aufgelegt sein. Es war ganz üblich, namentlich in geringeren Ständen, statt „Gutentag“ „Bonschur“ zu sagen. Heute ist dieser Ankunftsgruß verschwunden; wogegen der Abschiedsgruß „Adieu“ (den unsere Sprache schon früh, aber ohne durchgreifenden Erfolg, in das deutsche „Ade“ umzuwandeln versucht hat) noch heute gebraucht wird und namentlich dadurch sich erhält, daß wir einen gleich einfachen deutschen Abschiedsgruß nicht besitzen. Auch andere dem Französischen entnommene Ausdrucksweisen hörte man früher noch öfter. So die Redeweise: „Es wurde mir ganz blimmerant (bleu mourant) vor den Augen“. Man sprach kaum anders als von einer „Bouteille“ Wein. Manche brauchten noch in ihrer deutschen Rede die Worte „Peu-a-peu“, „partout", „doucement“ usw. Die Ausdrücke „Pardon“ und „Merci“ waren noch weit verbreitet. Ältere Herren sprachen auch noch von der „Bataille“ von Jena oder Austerlitz, von dem „Tractement“ der Offiziere, von der „Conduite“ der Beamten usw. Auch einige Vornamen genossen den Vorzug französischer Aussprache, und man konnte in Kasseler Bürgerhäusern öfters noch „Schorsche“ oder „Schang“ (George, Jean) rufen hören. Diese und noch manche andere französischen Worte sind verschwunden oder doch im Schwinden begriffen. Auf einigen Gebieten hat sich freilich die französische Sprache ihre Herrschaft bewahrt. Am beharrlichsten darin sind die Köche mit ihrem Menu. Auch in manchen Kreisen des Adels scheint man noch auf das reichliche Einmischen französischer Klänge besonderen Wert zu legen. [ . . . ]

[ . . . ] Die erkennbarste Umwandlung in unserer Volkssprache innerhalb der beiden letzten Menschenalter hat in den Anreden der Personen stattgefunden. Auch diese wurden früher weit mehr als jetzt von dem Französischen beherrscht. Zwar redete man erwachsene Männer, soweit man sie einer Titulatur würdigte, durchweg mit „Herr“ an. Nur bei Handwerkern brauchte man wohl die etwas vertraulichere Anrede „Meister“; eine Benennung, welche heute wieder in ganz anderer Weise auf dem Gebiete des Wagner-Kultus aufgetaucht ist. Junge Menschen aber im Alter von 14 bis 16 Jahren hießen damals „Musjö“. Erwägt man, daß der Ausdruck Monsieur, ebenso wie alle die verwandten Titulatoren: Monseigneur, Sir, Signore, Senor usw., dem lateinischen senior (der Ältere) entstammt, so erscheint es als eine der wunderlichsten Sprachwandlungen, daß in Deutschland die Anrede „Monsieur“ als Ehrenbenennung auf der jüngsten Klasse von Männern haften geblieben war. Heute hört man das Wort „Musjö“ nur schon selten. Es wird dann in der Regel in verächtlichem Sinne gebraucht. (z.B. „Ein schöner

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