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Eine ostdeutsche Schulaufsichtsbeamtin berichtet über ihre Erfahrungen während der Wende (1. Oktober 2003)

Eine Schulaufsichtsbeamtin im Ostberliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf beschreibt das Erbe des diktatorischen Systems, analysiert die vielfältigen Herausforderungen der Einführung westlicher Strukturen und Praktiken und versucht eine Bilanz der Erfolge und Fehlschläge der Vereinigung im Bildungsbereich.

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Schule im Umbruch: Unterrichtende und Unterricht in den neuen Bundesländern während und nach der Wiedervereinigung


1. Das Schulwesen der DDR im letzten Jahr vor der Wiedervereinigung

Nach etwa einem Monat Tätigkeit im Bildungsministerium der letzten (demokratisch gewählten) DDR-Regierung führte mich ein Mitarbeiter in seinem Zimmer zu einem Panzerschrank, öffnete ihn und holte aus der hintersten Ecke ein mit einem Bindfaden verschnürtes Bündel mit Papieren hervor – allesamt Kopien von Briefen, die an die Volksbildungsministerin Margot Honecker gerichtet waren. In diesen etwa 250 Briefen, geschrieben im Vorfeld des für Juni 1989 einberufenen IX. Pädagogischen Kongresses, machten die Bürger der DDR vielfältige Vorschläge zur Verbesserung der Bildungs- und Erziehungsarbeit in den Schulen. So forderten sie z.B. gleiche Bildungschancen für alle, die Entideologisierung der Bildungsinhalte, die Abschaffung des Wehrunterrichtes und eine Erziehung zu gewaltfreier Konfliktbewältigung, traten ein für einen Unterricht, der Kreativität, Phantasie und Lernfreude bei den Schülern weckt, sie zu mehr Eigenverantwortung erzieht sowie vor allem eine bessere individuelle Förderung ermöglicht, und äußerten sich auch zur Einführung neuer Unterrichtsfächer, Unterrichtsmethoden und –formen. Dazu muss man wissen, dass die Bevölkerung ausdrücklich aufgefordert worden war, zu aktuellen Bildungs- und Erziehungsfragen schriftlich Stellung zu beziehen.

Sehr schnell wurde mir klar, weshalb diese Briefe im Panzerschrank lagen. Sie alle trugen auf der Vorderseite den später geschwärzten Vermerk – den man aber dennoch entziffern konnte – „Keine Antwort, M.f.S.“. Aufgrund ihres kritischen Inhalts hatte der zuständige Staatssekretär Margot Honeckers die Originale offensichtlich unmittelbar dem Ministerium für Staatssicherheit (M.f.S.) übergeben. Glücklicherweise blieben dem gefürchteten Geheimdienst der DDR nur noch wenige Monate Zeit, um diese wohlgemeinten, aber unerwünschten Zuschriften zu „bearbeiten“.

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Diese Episode spricht für sich. Sie zeigt, mit welcher unbarmherzigen Härte die Führungsriege der Staatspartei der DDR jede Kritik am Bestehenden verfolgte und zu unterbinden trachtete. Die Notwendigkeit von Reformen des längst erstarrten Bildungssystems wurde ignoriert, würden sie doch seine Beherrschung und Instrumentalisierung in Frage stellen. Das Bildungssystem war für die SED das Instrument, mit dem sie über die permanente ideologische Beeinflussung des Einzelnen zugleich die politische Stabilität und die ideologische Geschlossenheit der Gesellschaft sicherzustellen glaubte.

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Mit dem Ausgang der ersten freien Wahlen am 18. März 1990 war das staatliche Ende der DDR bereits vorprogrammiert. Allerdings vermutete zu diesem Zeitpunkt kaum jemand, dass der Einigungsprozess eine so starke Eigendynamik entfalten würde. Sie bewirkte, dass von der ursprünglichen Absicht einer umfassenden DDR-eigenen Bildungsreform schon bald Abschied genommen werden musste. Spätestens nach dem Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 18. Mai 1990 und nach dem Gesetz über die Einführung der Länder in Ostdeutschland am 22. Juli 1990 wurde jedermann deutlich, dass die deutsche Einheit in absehbarer Zeit bevorstand. Eine Neu- bzw. Umgestaltung des ostdeutschen Bildungswesens nach westdeutschem Vorbild schien die einzig sinnvolle Alternative zu sein, um die beiden so diametral entgegengesetzten deutschen Bildungssysteme – hier das sozialistische Einheitssystem, das unter dem Machtmonopol der SED und des Staates stand, dort das von staatlichem Föderalismus und gesellschaftlicher Pluralität geprägte System der Bundesrepublik – einander anzugleichen.

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