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Bundespräsident Johannes Rau fordert eine Globalisierungspolitik (13. Mai 2002)

In einem Ansatz, der die Ängste vor der Globalisierung ernst nimmt, macht Bundespräsident Johannes Rau, ein moderater Sozialdemokrat, einen vorsichtigen Versuch einer Analyse der Vor- und Nachteile des weltweiten Wettbewerbs, wobei er für eine politische Anstrengung plädiert, den Prozess zwecks Maximierung seines positiven Potentials zu kontrollieren.

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Berliner Rede von Bundespräsident Johannes Rau im Museum für Kommunikation am 13. Mai 2002

Chance, nicht Schicksal – die Globalisierung politisch gestalten


I.

Vor drei Jahren hatte die Hälfte der Deutschen den Begriff Globalisierung noch nie gehört. Heute kennt ihn praktisch jeder. Keine politische Debatte, keine Rede zur Zukunft der Gesellschaft, keine wirtschaftliche Analyse kommt ohne dieses Wort aus.

Die „Eine Welt" – vor ein paar Jahren noch die Zukunftshoffnung alternativer Bewegungen und sogenannter „Dritte-Welt-Gruppen" – scheint nun durch grenzüberschreitende Finanzströme und Firmenfusionen, durch Internet und Mobiltelefon auf ganz andere Weise Wirklichkeit zu werden, als das einst gemeint war.

Das Wort „Globalisierung" begegnet uns nun beinahe täglich als Argument, als Argument allerdings für alles mögliche: Für radikale Bildungsreformen, für Englisch lernen schon im Kindergarten, aber auch für den Abbau von Arbeitsplätzen, für die Lockerung von ethischen Standards, zum Beispiel in der Gentechnik, für die Verlagerung von Firmensitzen, für den Zusammenschluss von Unternehmen – und schließlich als Grund dafür, dass es das ganze Jahr über Erdbeeren gibt.

Die einen sagen, die Globalisierung führe zum Verlust vertrauter Bindungen und zur Schwächung des Nationalstaates – und sie haben Angst davor. Andere feiern, dass die Herrschaft des Marktes und seiner Gesetze bald überall und für alles gilt.

Manchen erscheint all das wie ein unentrinnbares Schicksal, wie ein Verhängnis, anderen wie die Verheißung eines goldenen Zeitalters.

Das Stimmengewirr ist groß und auch die Unsicherheit darüber, was Globalisierung bedeutet – für jeden Einzelnen, für die Familien, für unsere Gesellschaft als ganze:

– Es hat mit Globalisierung zu tun, wenn die Firma, in der man arbeitet, plötzlich mit Betrieben aus Gegenden der Welt konkurriert, von denen man bisher kaum gehört hatte.

– Es hat mit Globalisierung zu tun, wenn sich junge Leute, die durch die Anden wandern, aus dem Internetcafe in Quito bei ihren Eltern in Oberursel melden und mal eben per E-Mail die ersten digitalen Fotos schicken.

– Es hat mit Globalisierung zu tun, wenn wir vom PC aus unseren Urlaub buchen und wenn Studenten sich nachmittags aus dem Internet Material aus Amerika für ihre Hausarbeit holen.

– Es hat mit Globalisierung zu tun, wenn in dem Auto, das wir kaufen, die Teile aus vielen Ländern kommen, wenn also das „Made in Germany" manchmal nur noch für die Idee, für die Endmontage oder für den Namen steht.

– Es hat mit Globalisierung zu tun, wenn Menschen in aller Welt am 11. September live miterleben mussten, wie das World Trade Center Tausende von Menschen unter sich begrub.

– Es hat mit Globalisierung zu tun, wenn aus abgelegenen Berghöhlen ein Verbrechen geplant und gesteuert wird, das die ganze Welt erschüttert.

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