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Gershom Scholem über die Wissenschaft des Judentums (Rückblick 1977)

Ein Hauptmotiv für die Begründer der Wissenschaft des Judentums im 19. Jahrhundert war es, durch die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Judentum dessen hohe kulturelle Bedeutung nachzuweisen, um dadurch Emanzipation und Gleichstellung der Juden sowie deren Integration in die Gesellschaft zu befördern. Dieser Ansatz konnte tendenziell zu einer Betonung von Akkulturation und Assimilation führen. Um die Jahrhundertwende – insbesondere mit dem Aufkommen des Zionismus – wuchs dagegen bei einer jüngeren Generation jüdischer Gelehrter die Tendenz zur Dissimilation.

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In München traf ich Toni Halle und Käthe Ollendorf, deren Ehe mit Johannes R. Becher gerade in die Brüche ging, aus dem Jenaer Kreis wieder, und dazu kam Gustave Steinschneider, mit dem ich 1917 beim Militär im selben Zug gewesen war, und dessen Ergehen Escha und mir besonders naheging. Er war der Enkel [Moritz Steinschneiders] des größten hebräischen Bibliographen und Handschriftenkenners des vorigen Jahrhunderts, dazu noch eines Mannes, der noch im höchsten Alter kein Hehl daraus machte, daß er die Funktion der Wissenschaft von Judentum darin sah, diesem bedeutenden aber untergehenden Phänomen ein anständiges Begräbnis zu verschaffen. Sicher war er die erste, eingestandenermaßen agnostisch, wenn nicht gar atheistisch gesinnte Koryphäe auf diesem Gebiet. Ich war ein großer Verehrer dieses stupenden Gelehrten, den ich, wenn ich statt im Märkischen Park im Friedrichshain gespielt hätte, noch neunzigjährig auf einer Bank dort hätte sitzen sehen können. Ich habe damals schon nicht wenig über diese Gruppe der gelehrten Liquidatoren nachgedacht und plante 1921, in Benjamins nicht zustande gekommener Zeitschrift Angelus Novus einen Aufsatz über den Selbstmord des Judentums in der sogenannten Wissenschaft von Judentum zu schreiben.



Quelle: Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977, S. 156-57.

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