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Gershom Scholem über den Zionismus (30. Juli 1921)

Der Zionismus in Deutschland hatte viele verschiedene Ausprägungen. Einzelne Gruppierungen und Personen betonten den politischen, kulturellen, religiösen („Misrachi“-Bewegung) oder praktischen Zionismus. Letzterer war auf die konkrete Vorbereitung und Durchführung der Auswanderung nach Palästina ausgerichtet und erhielt in den Jahren 1910-1914 verstärkt Zulauf. Daneben gründeten sich deutsche Ableger linkszionistischer Gruppen, insbesondere des nicht-marxistisch, sozialistischen, „Hapoel Hazair“ („Der junge Arbeiter“) sowie der marxistischen „Poalei Zion“ („Arbeiter Zions“). Mitte der 1920er Jahre formierte sich auch eine revisionistische Richtung. In der folgenden Quelle teilte Gershom Scholem seine Gedanken über verschiedene Formen des Zionismus Robert Weltsch und Hans Kohn mit. Weltsch war Chefredakteur der Jüdischen Rundschau; Kohn war Historiker und publizierte in Martin Bubers Monatsschrift Der Jude.

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An die Herren Robert Weltsch und Hans Kohn

München, 30. Juli 1921


Geehrte Herren

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Der systematische Begriff den ich von Zionismus habe, schließt nicht nur aufs strengste die bei Ihnen (im Buch „vom Judentum“, in den schmählichen Elaboraten des deutschen „Hapoël hazaïr“ und der „Jugendbewegung“ u. s. w.) übliche Phraseologie eines „revolutionären Zionismus“, sondern im Grunde die ganze politische Sphäre, in der die Revolution mit Recht als das Zentrum erblickt wird, als irrelevant, wenn nicht verderblich aus. Selbst wäre der Zionismus eine revolutionäre Sache, müsste er – mit doppelter und dreifacher Vorsicht – diese Terminologie vermeiden, welche es einer Unmenge leerer Köpfe erlaubt, sich nach Belieben breit zu machen und mit ihrem Geschwätz die wichtigsten Angelegenheiten des Volkes zu kompromittieren und zu gefährden. Die Unreinlichkeit einer Terminologie, die es ermöglicht hat, das (s) ein redseliger Literat im Golus sich als „junger Arbeiter“ anpreisen darf, daß diejenige Distanz von Palästina, die nicht aus Unwissenheit, sondern aus Ehrfurcht vor dem, was etwa dort geschehen möchte, entspringt, mit einigen Phrasen kühn und anmaßend zu überspringen oder zu überbrücken versucht werden kann, diese Unreinlichkeit ist schon in sich entsetzlich. Dazu kommt nun als ihr Grund die „moderne“ heillose Konfundierung religiöser und politischer Kategorien, aus religiöser und aus politischer Sphäre entspringender Forderungen, die beide geschändet und beide zum Spiel, das eines Tages in Gewalt umschlagen wird, erniedrigt hat.

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In der Tat: ich bekenne mich zu einem völlig unrevolutionären, weil sich auf eine Schicht, auf der es keine Revolutionen gibt, beziehenden Begriff von Zionismus, der nur in tiefer und kaum anstehender Ironie revolutionär genannt werden kann. Ich glaube nicht an eine wesentliche Beziehung sozialer Probleme zu der Aufgabe des Zionismus, das heißt, ich bin überzeugt, daß wenn die Wiedergeburt des jüdischen Volkes gelingen wird, sie auch im schlimmsten Kapitalistenstaat gelingen wird, und daß wenn sie scheitern sollte, sie es auch im sozialistischsten Staat täte. Ich kenne aber auch all jene Umwälzungen der Seele nicht, welche Sie verlangen, und von denen Sie behaupten erfasst zu sein, ich kenne nur die tiefe Stetigkeit einer Lehre welche freilich von Zion ausgegangen ist, ohne das Ohr der Zionisten zu treffen.

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Hochachtungsvoll Gerhard Scholem





Quelle: Gershom Scholem, Briefe I, 1914-1947, herausgegeben von Itta Schedletzky. München: Verlag C.H. Beck, 1994, S. 215-17.

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