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Arnold Schönberg, „Mein Publikum” (1930)

Durchaus hintersinnig übertreibt der österreichische Komponist Arnold Schönberg, der Erfinder der Zwölftonmusik, im folgenden Text von 1930 seinen Außenseiterstatus. Gleichzeitig verharmlost Schönberg im hier wiedergegebenen Text bei seinen atonalen Werken mögliche Verständnisschwierigkeiten für das breitere Publikum; die nicht ganz unwesentliche Frage nach Tonalität oder Atonalität wird im Grunde nicht weiter thematisiert. Dass sich Schönberg „seines“ Publikums durchaus bewusst war, zeigt die mehrmalige Veröffentlichung des Textes in unterschiedlichen Publikationen: in den Blättern der Staatsoper (Berlin), in der Zeitschrift Querschnitt sowie sogar in der Eisenacher Zeitung.

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Mein Publikum


Aufgefordert, über mein Publikum etwas zu sagen, müßte ich bekennen: ich glaube, ich habe keines.

Zum Beginn meiner Laufbahn, wenn zum Ärger meiner Gegner ein beträchtlicher Teil der Zuhörerschaft nicht zischte, sondern applaudierte; wenn es also den Zischern nicht gelang, sich gegen die Mehrheit durchzusetzen, obwohl ja Zischen auffallender klingt als Applaudieren: dann behaupteten diese meine Gegner, die Beifallspender seien meine Freunde und hätten nur aus Freundschaft applaudiert, nicht aber, weil ihnen das Stück gefallen hat. Meine armen Freunde: so wenig es waren, so treu waren sie. Aber, hielt man sie zwar für verworfen genug, meine Freunde zu sein, so doch nicht für so verworfen, daß ihnen meine Musik gefallen könne.

Ob ich damals ein Publikum hatte, kann ich nicht beurteilen.

Nach dem Umsturz aber gab es in jeder Großstadt die gewissen paar hundert jungen Leute, die gerade nichts mit sich anzufangen wußten und sich deshalb bemühten, durch ein Bekenntnis zu allem, was nicht durchzusetzen ist, eine Gesinnung zu dokumentieren. Damals, als dieses Wandelbare, diese Gesinnung auch mich einschloß, schuldlos einschloß, damals behaupteten Optimisten, nun hätte ich ein Publikum. Ich bestritt es; denn ich begriff nicht, daß man mich über Nacht sollte verstehen können, ohne daß, was ich geschrieben, inzwischen dümmer oder flacher geworden wäre. Der baldige Abfall der Radikalisten, die noch immer mit sich nichts, aber dafür mit anderen anzufangen wußten, gab mir recht: ich hatte nichts Flaches geschrieben.

Daß das große Publikum wenig Beziehung zu mir hat, liegt an mancherlei Ursachen. Vor allem: die Generäle, die noch heute das Musikdirektorium innehaben, bewegen sich im allgemeinen in Richtungen, in die die meinige nicht hineinpaßt, oder fürchten, dem Publikum etwas vorzusetzen, das ihnen selbst unverständlich ist. Manche (wenn sie es auch aus Höflichkeit mit Bedauern zugeben) halten es in Wirklichkeit für einen ihrer Vorzüge, mich nicht zu verstehen. Zugegeben sogar, daß es ihr größter ist, so mußte ich mich doch das erstemal wundern, als mir ein Wiener Dirigent eröffnete, er könne meine Kammersymphonie nicht aufführen, weil er sie nicht verstehe. Aber es belustigte mich: Warum mußte er gerade bei mir darauf versessen sein, zu verstehen, nicht aber bei den klassischen Werken, die er unbedenklich jahraus-jahrein aufführte. Aber im Ernst muß ich sagen: es ist dennoch keine Ehre für einen Musiker, eine Partitur nicht zu verstehen, sondern eine Schande; was im Fall meiner Kammersymphonie vielleicht sogar manche meiner Gegner heute zugeben werden.

Neben diesen dirigierenden sind es die vielen zwar nicht dirigierenden aber andersartig irreführenden Musiker, welche sich zwischen mich und das Publikum stellen. Ich habe unzählige Male gesehen, daß es der Hauptsache nach nicht das Publikum war, das gezischt hat, sondern eine kleine, aber rührige „sachverständige“ Minorität. Das Publikum benimmt sich entweder freundlich oder teilnahmslos, oder ist eingeschüchtert, wenn seine geistigen Führer protestieren. In seiner Gesamtheit ist es immer mehr geneigt, an einer Sache, der es Zeit und Geld widmet, Gefallen zu finden. Es kommt weniger, um zu richten, als vielmehr, um zu genießen, und besitzt ein gewisses Gefühl dafür, ob derjenige, der vor es hintritt, dazu berechtigt ist. Es hat aber kein Interesse, sich durch ein mehr oder weniger richtiges Urteil in ein besseres Licht zu stellen; teils, weil kein Einzelner dadurch gewinnt oder verliert, da jeder durch jeden gedeckt oder verdeckt ist; teils aber, weil sich darunter doch Leute befinden, die auch etwas gelten, ohne erst durch Kunsturteile glänzen zu müssen, und die, ohne an Ansehen einzubüßen, ihren Eindruck ungewertet bei sich behalten dürfen. Alles darf man für sich behalten, nur Sachverständnis nicht. Denn was ist Sachverständnis, wenn mans nicht zeigt? Deshalb vermute ich auch, daß es die Sachverständigen waren, die meinen Pierrot lunaire so unfreundlich aufnahmen, als ich ihn in Italien aufführte, nicht aber die Kunstfreunde. Ich hatte zwar die Ehre, daß Puccini, kein Sachverständiger, sondern ein Sachkönner, der bereits krank, eine sechsstündige Reise machte, um mein Werk kennenzulernen, und mir nachher sehr Freundliches sagte: das war schön, auch wenn ihm meine Musik doch fremd geblieben sein sollte. Aber charakteristisch war dagegen, daß als lautester Störer des Konzerts der Direktor eines Konservatoriums erkannt wurde. Und dieser war es auch, der nach Schluß sein echt südliches Temperament nicht zu zügeln und den Ausruf nicht zu unterdrücken imstande war: „Wenn wenigstens ein einziger anständiger Dreiklang in dem ganzen Stück vorgekommen wäre!“ Er hatte offenbar in seiner Lehrtätigkeit zu wenig Gelegenheit, solche anständige Dreiklänge zu hören, und kam deshalb, sie in meinem Pierrot zu finden. Bin ich an seiner Enttäuschung schuld?

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