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Kurt Tucholsky, „Berlin und die Provinz” (1928)

Berlin, zugleich die Hauptstadt des Deutschen Reiches wie auch Preußens, des größten und bevölkerungsreichsten Landes im Reich, war Mitte der 1920er Jahre mit mehr als 4 Mio. Einwohnern mit Abstand die größte deutsche Stadt. Einzige deutsche Millionenstadt neben Berlin war Hamburg. Zwar war insgesamt die Urbanisierung schon weit fortgeschritten. Allerdings standen dabei 1925 den etwa 16,7 Mio. Einwohnern (26,78 Prozent der deutschen Bevölkerung) in Großstädten (mit mehr als 100.000 Einwohnern) etwa 33 Mio. Menschen (ca. 53,3 Prozent der Bevölkerung) gegenüber, die in Landgemeinden und Kleinstädten mit weniger als 10.000 Einwohnern lebten. Tucholsky zweifelt daher im folgenden Text an, ob Berlin wirklich „Kern und Herz“ des Landes sei. Gleichzeitig spiegelt seine Kritik der „deutschen Provinz“ sowie die Befürwortung von mehr Zentralismus auch die von Tucholsky selbst kritisierte Fixierung der „Leitartikler“ auf Berlin wider.

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Berlin und die Provinz


Wenn der Berliner Leitartikler von Deutschland spricht, so gebraucht er gern den fertig genähten Ausdruck ‹draußen im Lande›, was eine groteske Überschätzung der Hauptstadt bedeutet. Denn Niveau, Basis und Fundament Deutschlands liegen ‹draußen im Lande› – und wieweit Berlin davon auch nur ein Exponent ist, bleibt zu untersuchen.

Was den republikanischen Gedanken in jener abgeschwächten Form angeht, in der er bei uns hergestellt wird, so ist zu sagen, daß draußen im Lande nur fleckweise etwas von ihm zu merken ist. Östlich der Elbe sieht es damit faul aus, rechts der Oder oberfaul. Man muß so einen Bericht eines Diskussionsabends der Vereinigung der Republikanischen Presse lesen, um zu fühlen, wie geduldet sie noch alle sind. Ein Regierungsassessor in Arnsberg steht dem Reichsbanner nahe und darf deshalb im Kasino nicht mehr am ‹Regierungstisch› mitessen; er beschwert sich und wird versetzt: er, nicht der Regierungspräsident. Der gute Wille und der schwere Stand des preußischen Innenministers sollen nicht verkannt werden: die Tradition aus Severings guten Tagen ist noch da. Aber fast immer sind sie in der Defensive, so häufig treten sie schüchtern auf, oft hat man das Gefühl, als entschuldigten sie sich, auf der Welt zu sein. Das ist nicht nur, wie sie immer behaupten, Mangel an geeigneten Leuten – es ist Mangel an Kraft, an Mut, an Stärke.

Aber ganz abgesehen von der Politik wäre zu fragen, inwieweit Berlin die Provinz beeinflußt und wie sie denn mit oder ohne Berlin eigentlich aussieht.

Soweit das ein einzelner sagen kann, möchte ich behaupten, daß Berlin in vielen mindern und einigen guten Gebieten der äußern Zivilisation die deutsche Provinz sehr stark beeinflußt; zum mindesten geht die Entwicklung der Hauptstadt und der Provinzstädte hier parallel. Die Bar, das dumme Revue-Theater, der Amüsier-Betrieb; die ‹Aufmachung› – das alles findet sich in den größern Provinzstädten fast überall wieder, und sie sind auch noch sehr stolz darauf. Wo aber bleibt, wie man so schön sagt, die Eigenart der Länder?

Sie ist schon da, aber ich glaube, daß der innere Zentralisierungsprozeß große Fortschritte macht. Eine Mechanisierung, eine Automatisierung des Lebens haben eingesetzt, gegen die der föderalistische Gedanke Rückschritt und nicht ungefährliche Romantik bedeutet. Was zum Beispiel Fr. W. Foerster wiederaufbauen will, lebt nicht mehr – er übersieht, daß die Stärkung der kleinen Lebenskreise nicht eine Stärkung der Kultur nach sich zieht, sondern Vorwand für Lokaleitelkeit und eine spanische Wand bildet, hinter der man das bißchen Verfassung noch mehr sabotieren kann als es schon, etwa von Bayern, geschieht. Lieber ein einziges ‹Preußen› als sechsundzwanzig. Wobei auch für die große französische Presse anzumerken ist, daß Preußen heute einer der freiheitlichsten Bundesstaaten und schon lange nicht mehr der Hort der Reaktion ist.

Berlin aber überschätzt sich maßlos, wenn es glaubt, es sei Kern und Herz des Landes. Der berliner Leitartikler täte gut, inkognito einmal auf ein großes schlesisches Gut zu gehen, auf ein ostpreußisches, in eine pommersche Landstadt – und er wird etwas erleben. Was der Hindenburg-Tag seinerzeit nach Berlin an Schwankfiguren, an Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Zylindern, an hundertjährigen Bratenröcken und Oberförsterbärten ausgespien hat, war nur eine kleine bemusterte Offerte: die Warenlager liegen in den kleinen Städten wohl assortiert und können jederzeit – nicht immer ohne Gefahr – besichtigt werden. Ohne Gefahr dann nicht, wenn etwa der ‹Berliner› versuchen wollte, Terror, Diktatur und Frechheit der dort herrschenden Bourgeoisie tatkräftig abzudrehen. Kein Gericht stützt ihn da, keine Verwaltungsbehörde, keine Zeitung. Er ist verloren und muß das Feld räumen.

Sieht es in der Kultur der Provinz besser aus –? Kaum.

Die Krisis des dessauer Bauhauses hat es erst jüngst gezeigt, wie es damit steht. Erst haben sie diese schwarz-rot-goldene Juden-Architektur aus Weimar herausgehauen; dann setzte auch in Dessau ein jahrelanger Verleumdungsfeldzug ein, und nun haben sie den Führer, Herrn Gropius, glücklich zur Strecke gebracht. Tatsache ist dies:

Im Augenblick, wo eine künstlerische Institution von den Kommunalbehörden in der Provinz oder Landesbehörden in der Provinz abhängt, ist es mit ihr aus: sie gerät widerstandslos in den reaktionären Muff engstirniger Kleinbürger; freiheitliche Männer werden gekündigt, herausgeekelt, herausgeworfen, und weil der manchmal großzügig denkende Fürst fehlt, der so oft Schöpfer der Landes- oder Städtekultur gewesen ist, so herrscht der kleinliche Provinzler absolut. Natürlich gibt es in den größern Provinzstädten Ausnahmen.

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