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Felix Gilbert über seine Entscheidung, Historiker zu werden (Rückblick 1988)

Der bekannte Historiker Felix Gilbert beschreibt in diesem kurzen Textauszug, inwiefern ihn das Durchleben umwälzender Ereignisse, welche die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts prägen sollten, dazu bewegten, die Geschichtsschreibung zu seinem Beruf zu machen. Nach seinem ersten Semester in Heidelberg (dem Sommersemester 1923) arbeitete Felix Gilbert für zwei Jahre als Hilfskraft an der Aktenedition des Auswärtigen Amtes mit dem Titel „Die große Politik der europäischen Kabinette 1871-1914“ mit.

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Während meines ersten Semesters in Heidelberg entschloß ich mich dann rasch, aber entschieden, Geschichte zum Hauptgebiet meines Studiums zu machen. Der Grund lag natürlich weder darin, daß das erste Buch, das ich gelesen hatte, sich mit Geschichte befaßte, noch in der Tatsache, daß die anderen Pläne fallengelassen worden waren. Das Studium der Geschichte bekam für mich entscheidende Bedeutung und besaß unwiderstehliche Anziehungskraft, weil ich in einer Welt der Politik aufgewachsen war.

Ich war neun und gerade aufs Gymnasium gekommen, als der Erste Weltkrieg ausbrach; ich war dreizehn, als der Krieg mit der Niederlage endete und Deutschland Republik wurde; ich war achtzehn und hatte gerade mein erstes Semester an der Universität von Heidelberg hinter mir, als die Inflation fast zu einem Bürgerkrieg in Sachsen und Bayern führte und mit der Entwertung der Mark endete. Krieg, Revolution und soziale Spannung prägten, in kettenähnlicher Verknüpfung, die entscheidenden Jahre meiner Jugend.

Zu jung, um im Krieg zu kämpfen, jedoch alt genug, über meinen weiteren Weg entscheiden zu müssen, bevor die Welt wieder eine feste Ordnung angenommen hatte, glaubte ich einer besonderen Generation anzugehören, und viele meiner Zeitgenossen teilten dieses Gefühl. Anders als die Generation davor und danach waren wir skeptisch gegenüber den Werten der Vergangenheit, aber ebenso skeptisch hinsichtlich der Möglichkeit gesicherter Verhältnisse in der Zukunft.



Quelle der deutschen Übersetzung: Felix Gilbert, Lehrjahre im alten Europa – Erinnerungen 1905-1945. Berlin: Siedler Verlag, 1989, S. 33.

Quelle des englischen Originals: Felix Gilbert, A European Past: Memories, 1905-1945. New York: W.W. Norton & Company, Inc., 1988, S. 26-27.

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