GHDI logo


Plädoyer für die Beibehaltung der Fristenlösung im vereinten Deutschland (1990)

Die Schriftstellerin Monika Maron siedelte 1988 von der DDR in die Bundesrepublik über, blieb aber in vielen ihrer Veröffentlichungen ihrer ehemaligen Heimat verbunden. In diesem Aufsatz setzt sie sich vehement für die Beibehaltung der Fristenlösung ein, die sie als eine der wenigen bewahrenswerten Errungenschaften der DDR ansieht.

Druckfassung     Dokumenten-Liste letztes Dokument im vorherigen Kapitel      nächstes Dokument

Seite 1 von 1


Letzter Zugriff auf die Frau


Die Frage nach der deutschen Einheit ist beantwortet. Die Frage nach der Währung wird letztlich zur Zufriedenheit der meisten Betroffenen beantwortet werden, weil niemand noch mehr ostdeutsche Geschwister im eigenen westdeutschen Haus ertragen will und weil auf die Expansionslust der Wirtschaft Verlaß ist.

Selbst der Eintritt der DDR in die Bundesrepublik über den Artikel 23 ist fast zur politischen Tatsache gereift. Und hier, ehe der § 218 wieder über die vereinigten deutschen Frauen herrscht, will ich laut um Hilfe schreien.

Befragt nach dem Bewahrenswerten in der DDR, fällt mir – außer dem grünen Pfeil für Rechtsabbieger an der roten Ampel – einzig das Abtreibungsgesetz ein, und die Vorstellung, es könnte den Frauen so willkürlich genommen werden, wie es ihnen gegeben wurde, findet in meinem Kopf keinen ruhigen Platz.

In der DDR gilt seit 1972 ausschließlich eine Fristenregelung. Der Schwangerschaftsabbruch ist kostenlos. Die Frauen in der DDR verdankten die überraschende Veränderung ihres Lebens weniger den alten Männern, von denen sie regiert wurden, als dem mutigen und lautstarken Aufbegehren der westdeutschen Frauen, die damals gegen den Anspruch des Staates auf ihre Leibeigenschaft durch die Straßen zogen. Ihr Protest weckte in den ehemaligen Proletariern Erinnerungen an die eigenen Kämpfe gegen den § 218 in der Weimarer Republik und ließ sie den hybriden Slogan der Ulbrichtzeit »Überholen ohne einzuholen« erneut beleben. Für dieses eine Mal ist es ihnen sogar gelungen. Seitdem ziert ein uneingeschränkt freiheitliches und liberales Gesetz das düstere Gesetzeswerk der DDR als ein schöner Fremdkörper.

Ich war 30 Jahre alt, als den Frauen in der DDR dieses Gesetz beschert wurde. Es kam so undemokratisch zustande wie alle anderen Gesetze auch. Nur in dem Gewissen einiger christlicher Abgeordneter rumorte ein längst vergessener Widerstand und führte zu den unglaublichen, ungeheuerlichen 14 Gegenstimmen, die sich die CDU selbst im Wahlkampf 1990 noch als einziges Ruhmesblatt in den entlaubten Kranz flocht.

Mein demokratisches Verständnis war damals durchaus teilbar, denn ich erinnere mich, frohlockt zu haben über die Aussichtslosigkeit, mit der Ärzte und Pfarrer sich gegen das neue Gesetz sträubten.

Heute denke ich darüber anders.

Wir brauchen in einem zukünftigen Deutschland eine gesetzliche Regelung über ungewollte Schwangerschaften, die in ihrem Geiste so demokratisch ist wie der Weg der Rechtsfindung, der zu ihr führt. In diesem Sinn ist das Gesetz der Bundesrepublik so wenig demokratisch legitimiert wie das der DDR.

Von 519 Abgeordneten des Bundestages sind 83 Frauen. Von 16 Verfassungsrichtern sind zwei Frauen, für jeden Senat eine. Das durchschnittliche Alter der weiblichen Bundestagsabgeordneten beträgt etwa 50 Jahre; 16 von ihnen sind unter 40.

[ . . . ]

In den nächsten Wochen wird das Abtreibungsgesetz der DDR zur Diskussion stehen. Entweder verlieren die Frauen in der DDR das wichtigste Recht, das sie zu verlieren haben, oder die Diskussion um den § 218 wird zur ersten Chance, im Prozeß der Vereinigung auch bundesdeutsches Recht zu korrigieren, und die westdeutschen Frauen bekommen endlich auch, wozu sie den ostdeutschen schon vor 18 Jahren verholfen haben.

[ . . . ]



Quelle: Monika Maron, „Letzter Zugriff auf die Frau“, in Monika Maron, „Nach Maßgabe meiner Befreiungskraft: Artikel und Essays.“ © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 1993, S. 91-93.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite