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Die Ära Schröder: Fortschritte in der Innenpolitik aber außenpolitische Zweifel (17. November 2005)

Der linksliberale Historiker Hans-Ulrich Wehler zieht eine Bilanz der Regierungsjahre Gerhard Schröders. Innenpolitisch habe seine Regierung wichtige Projekte durchgesetzt. Was die Beziehungen Deutschlands zu den USA und Deutschlands Rolle in Europa angeht, so ist seine Beurteilung kritischer.

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Was bleibt von Schröder?

Innenpolitisch hat der scheidende Bundeskanzler Wichtiges angepackt, vor allem die Reform des Sozialstaats. Seine Außenpolitik dagegen war voller Fehler.



Im Jahr 2009 erscheint, wie man hört, zum 70. Geburtstag der Bundesrepublik eine Festschrift, für die ein Zeithistoriker die »Ära Schröder« behandeln soll. Was könnte er, nachdem sich die Pulverschwaden um die Konflikte der Zeit zwischen 1989 und 2005 längst verzogen haben, mit der gebührenden Distanz über diesen Kanzler festhalten?

In der Innenpolitik gelang es Schröder, nach der bleiernen Stagnation der letzten Kohl-Jahre auf drei Handlungsfeldern langwierige Debatten mit einem Erfolg abzuschließen. Endlich wurde in einem neuen Staatsbürgerschaftsgesetz der seit 1913 sakrosankte Grundsatz des jus sanguinis durch das in allen westlichen Staaten vorherrschende Prinzip des jus solis ersetzt (also Anerkennung als Staatsbürger kraft Geburt in diesem Land oder des Bekenntnisses zu ihm anstelle der ethnischen Herkunft). Zugleich trug das damit verbundene Regelwerk der Tatsache Rechnung, dass die Bundesrepublik – zwischen 1950 und 2000 der Staat mit der weltweit höchsten relativen Zuwanderungsrate! – längst ein Einwanderungsland geworden war und fortab wie die meisten Einwanderungsländer auf Zulassungsquoten gemäß seiner eigenen Interessenlage bestand. Endlich wurde auch der deprimierende Streit über eine materielle Entschädigung der Zwangsarbeiter des »Dritten Reiches« abgeschlossen. Mit fünfzigjähriger Verspätung erhielten die Überlebenden eine Zahlung, die zumindest symbolisch, wenn auch nicht finanziell adäquat ihre Sklavenarbeit anerkannte.

Von verlorener Zeit, wie die Kritik sie nannte, wird man daher mit Blick auf diese Erfolge in den ersten fünf Schröder-Jahren so pauschal nicht sprechen können. Sehr wohl aber war es vertane Zeit angesichts der Herausforderungen; die inneren Fehlentwicklungen und die Globalisierung machten Reformen des Sozialstaats, des Arbeitsmarkts, des Gesundheitssystems unabwendbar. Geblendet von einem Wachstumsfetischismus, der im Wirtschaftswunderland wilde Blüten getrieben hat, ist die eigentliche Bürde ein Mangel an Flexibilität. Als Schröder, fünf Jahre zu spät, diese Reformen dann doch mit dem Ziel der Machterhaltung in Angriff nahm, beging er während seiner durchaus imponierenden Kraftanstrengung einen erstaunlichen Fehler. Als Franklin Roosevelt von 1933 an den Amerikanern mit seinem New Deal den Übergang zum Sozialstaat zumutete, erklärte er regelmäßig in den berühmten »Radioansprachen vorm Kamin« die Notwendigkeit dieses Kurswechsels. Sein Nimbus, der ihm seither noch dreimal das Präsidentenamt verschaffte, beruhte nicht zuletzt auf diesem geduldigen Werben um die Zustimmung der Wählerschaft. Nichts davon bei Schröder! Anstatt das noch wirksamere Medium Fernsehen jede Woche in den öffentlichen und privaten Sendern entschlossen zu nutzen, anstatt den tief skeptischen, erfolgsverwöhnten Bürgern, nicht zuletzt in seiner eigenen Partei, die Unvermeidbarkeit tiefer Einschnitte in menschenfreundlicher Prosa unermüdlich zu erklären, beschränkte er sich auf eher beiläufige Erläuterungen des Reformpakets. Für diese schwer erklärbare Zurückhaltung des »Medienkanzlers« musste er einen schmerzhaften Preis zahlen: die mürrische, ja empörte Abwehrhaltung in weiten Kreisen der Bevölkerung, die rapide Erosion der SPD als Volkspartei, die sich nicht »mitgenommen« fühlte, etwas später auch noch den Aufstieg der Linkspartei. Trotzdem bleibt als bedeutendste politische Leistung Schröders bestehen, dass er das Reformwerk in Angriff genommen und damit eine Konstellation geschaffen hat, die den Weg zu seiner Fortsetzung bahnt. Wer mit Max Weber Politik für das Bohren dicker Bretter mit Augenmaß und Leidenschaft hält, wird anerkennen, dass Schröder Hartholz mit unleugbarem Erfolg angebohrt hat.

Zwiespältig ist dagegen der Eindruck, den seine Außenpolitik hinterlässt. Im Kosovo und in Afghanistan setzte Schröder gegen traditionelle Bedenken durch, dass Deutschland wie eine »normale« Mittelmacht agierte – angesichts der pazifistischen Unterströmung in der SPD und bei den Grünen kein Kinderspiel. Andererseits gab es kein durchschlagendes Argument für eine deutsche Teilnahme am Irak-Krieg von Bush junior. Sich fern zu halten musste allerdings im Verhältnis zur Hegemonialmacht gravierende Probleme aufwerfen.

In dieser Situation ohne sorgfältige Absprache in der Regierung und mit den Verbündeten allein unter dem Primat der Wahlentscheidung den Alleingang eines schroffen Neins zu riskieren, das verletzte die Regeln der politischen Klugheit. Geboten war kein auf Wählerresonanz fixierter, ziemlich spontan eingeschlagener und erst später als souveräne Strategie ausgegebener deutscher Sonderweg, sondern eine koordinierte Aktion europäischer Staaten unter der Führung Frankreichs mit dem Ziel, eine breiter fundierte Ablehnung durchzufechten. Die bizarre Allianz mit Russland und China war dafür denkbar ungeeignet. Zwar haben die Skeptiker aus der Zeit vor dem Kriegsausbruch bisher weithin Recht behalten. Doch das Verhältnis Berlins zu den amerikanischen Funktionseliten besitzt, unabhängig von ihrer Parteipräferenz, seither wegen Schröders Stil manche Bruchstelle mit Langzeitwirkung.

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