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Hoffnungen und Befürchtungen am Vorabend der Osterweiterung (26. April 2004)

Der Autor betont die historische Bedeutung der Osterweiterung der Europäischen Union für die kulturelle und politische Zusammenführung Europas. Allerdings streiten sich die Experten über die wirtschaftlichen Konsequenzen für Deutschland. Während die einen befürchten, dass Arbeitsplätze in die Billiglohnländer abwandern werden, sehen andere in der Expansion des europäischen Marktes vor allem eine Chance für die deutsche Wirtschaft.

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Der Preis des neuen Europa

Die Osterweiterung wird die EU grundlegend verändern. Mit Billiglöhnen und Niedrigsteuern fordern die Beitrittsländer die etablierten Club-Mitglieder heraus. Deutschland muss sich darauf einstellen – oder es wird zu den Verlierern des neuen Europa zählen.


Gelsenkirchen hat schon bessere Tage gesehen, damals in den sechziger Jahren, als die Kohle Tausenden vermeintlich sichere Arbeitsplätze bot und die Stahlindustrie im Ruhrgebiet florierte. Heute, viele Jahre und etliche Zechenstilllegungen später, ist die Stadt mit einer Arbeitslosenquote von 17,7 Prozent trauriger Spitzenreiter im Westen Deutschlands. Und doch erscheint die Gegenwart geradezu golden – im Vergleich zu dem, was kommt.

Zwei der größten noch verbliebenen Arbeitgeber der Stadt, der Heizgerätehersteller Vaillant und der Automobilzulieferer TRW, wollen abwandern oder Produktionsteile verlagern – nach Tschechien oder in die Slowakei, wo die Löhne niedrig und die Arbeitszeiten flexibel sind. Insgesamt stehen in der einstigen Stadt der 1000 Feuer fast 1000 Arbeitsplätze auf dem Spiel.

„Hier werden Menschen auf die Straße gesetzt wie ein räudiger Hund, um an anderer Stelle noch ein paar Euro mehr zu machen“, attackierte Oberbürgermeister Oliver Wittke (CDU) die Pläne. Die Stadt stand auf, wie sie in der Vergangenheit immer wieder aufgestanden war – mit Menschenketten, Mahnwachen und Mutter-Kind-Protesten bei der Geschäftsführung. Einige ketteten sich sogar am Werkstor von TRW fest.

Der Betriebsrat des Autozulieferers beauftragte zwei Gutachter damit, den tatsächlichen Lohnkostenvorteil einer Verlagerung zu untersuchen und möglichst kleinzurechnen. Aber einem Monatslohn, der ein Fünftel des deutschen beträgt, ist selbst mit höherer Mathematik schwer beizukommen. „Das Gutachten kam zu dem Schluss, die Verlagerung sei begründet“, sagt Betriebsrat Bernd Otto. Die Belegschaft will nun anbieten, freiwillig 40 Stunden zu arbeiten.

Ob das reicht? Oder müssen sie auch noch die Löhne senken? Und wenn ja, wie weit? Auf tschechisches, polnisches, slowakisches Niveau? Aber wie soll ein Mensch mit solchen Löhnen in einem Land mit deutschen Mieten und deutschen Preisen leben?

Fragen wie diese treiben in diesen Tagen und Wochen viele um: Arbeiter, die um ihre Jobs fürchten, Manager, die über die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Unternehmen nachdenken, Professoren, die sich um den Standort Deutschland sorgen.

Und den Kanzler, der auf diese komplizierten Fragen eine verblüffend einfache Antwort hat: Wer Jobs ins Ausland verlagert, handelt unpatriotisch. Basta.

Aber so einfach ist die Welt nicht, und am 1. Mai wird sie noch ein wenig komplizierter. Dann werden zehn neue Mitgliedstaaten aus Mittel-, Süd- und Osteuropa in die Europäische Union aufgenommen. Sobald Polen, die Tschechische und die Slowakische Republik, Ungarn, Slowenien, Estland, Lettland, Litauen sowie Malta und Zypern integriert sind, ist die größte Erweiterungsrunde in der Geschichte der EU vollzogen. Und auch die gewagteste.

Denn bisherige Erweiterungen betrafen Länder, in denen zunehmend westliche Lebensstandards und westliche Wertesysteme herrschten, die acht osteuropäischen Staaten aber waren noch vor anderthalb Jahrzehnten tief im sozialistischen Wirtschaftssystem verhaftet. Seither haben diese Länder ihre Industrie fast vollständig privatisiert, sie haben den Kapitalverkehr und den Handel liberalisiert.

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