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Bundespräsident Johannes Rau ruft zu mehr Toleranz gegenüber Einwanderern auf (12. Mai 2000)

In einer ergreifenden Rede ruft Bundespräsident Johannes Rau die deutsche Öffentlichkeit zu mehr Toleranz gegenüber Einwanderern auf und lobt sie als bereicherndes Element, während er gleichzeitig größere Integrationsanstrengungen von den Einwanderern fordert.

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Ohne Angst und ohne Träumereien: Gemeinsam in Deutschland leben
Bundespräsident Johannes Rau, 12. Mai 2000
Haus der Kulturen der Welt, Berlin



I.

Meine Damen und Herren,

• 30 Prozent aller Kinder an deutschen Schulen stammen aus zugewanderten oder kürzlich eingebürgerten Familien. An manchen Schulen sind es sogar 60 Prozent und mehr.
• 1997 und 1998 haben mehr Menschen aus anderen Ländern Deutschland verlassen, als Menschen neu zu uns gekommen sind.
• Von 1990 bis 1998 haben 50% aller Asylbewerber innerhalb der Europäischen Union in Deutschland um Asyl nachgesucht. 1999 war es ein gutes Viertel.
• Von allen, die bei uns Asyl suchen, werden vom zuständigen Bundesamt etwa 4% anerkannt.
• Allein Türken haben in Deutschland etwa 50.000 Betriebe gegründet und 200.000 Arbeitsplätze geschaffen.
• Der deutschen Wirtschaft werden in Zukunft qualifizierte Arbeitskräfte fehlen.

Das sind sechs ganz unterschiedliche Feststellungen über die Wirklichkeit in Deutschland – und doch stehen sie in einem großen Zusammenhang.

Zuwanderung, Einwanderung, Flüchtlingskontingente, Zuzugsbegrenzung, Integration, Green-Card, Asyl, Abschiebung, Rückführung – diese Stichworte bestimmen seit vielen Jahren immer wieder, in Schüben, die politische Diskussion.

Viele einzelne Probleme, viele einzelne Fragen sind auch Gegenstand privater Gespräche – oft führen sie auch zu sprachloser Konfrontation.

Mehr als sieben Millionen Ausländer leben in Deutschland. Sie haben unsere Gesellschaft in den vergangenen Jahren verändert. Doch wir denken zu wenig darüber nach, was das für das Zusammenleben in unserem Land insgesamt bedeutet.

Und wir handeln zuwenig danach.

Wie wir miteinander leben, das ist eines der wichtigsten Themen überhaupt, wenn wir an die Zukunft unserer Gesellschaft denken.

Wir müssen uns mit diesem Thema beschäftigen,

• weil es alle in unserem Land betrifft, auch wenn manche es bisher noch nicht gemerkt haben,
• weil es in manchen Punkten bis an den Kern unserer Verfassungsordnung und unserer Verfassungswirklichkeit reicht,
• weil Abwarten die Probleme, die es gibt, nicht löst, sondern größer macht.
• weil es letztlich darum geht, ob wir gemeinsam an einer guten Zukunft für alle arbeiten können.

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