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Ein türkisch-deutscher Schriftsteller über Wege zur Überwindung der türkisch-deutschen Trennung (22./23. August 1998)

Der türkisch-deutsche Schriftsteller Zafer Senocak denkt über die Stabilität der türkischen Identität in Deutschland nach und schlägt Maßnahmen vor, um die Gastfreundschaft der Bundesrepublik Einwanderern gegenüber zu erhöhen, während er gleichzeitig eine Reduzierung des Nationalismus unter Neubürgern anmahnt, die er auffordert, sich den deutschen Werten und der deutschen Lebensweise gegenüber zu öffnen.

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Aber das Herz schlägt noch türkisch

Nirgendwo fühlen sich Türken ihrer neuen Heimat Deutschland näher als in Berlin. An der Spree gibt es nicht nur Kebab satt, hier kann türkischer Lifestyle geschnuppert werden. Dennoch sind die Türken in Deutschland noch nicht wirklich angekommen. Der deutsch-türkischen Wahlverwandtschaft mangelt es nach wie vor an interkultureller Kompetenz. Ein programmatischer Ausblick zur Migration.



Wo sind die Türken in Deutschland heute zu Hause? Auf diese Frage gibt es keine einheitliche Antwort. Von den zwei Millionen Türken in Deutschland haben sich inzwischen etwa 200.000 einbürgern lassen. Diese Zahl wird sich in den nächsten Jahren verdoppeln, vielleicht verdreifachen.

Doch für nicht wenige ist der deutsche Ausweis lediglich ein Papier, das man nur an den Grenzen aus der Tasche zieht. „Patriotismus ist die Liebe zu den guten Speisen der Kindheit”, heißt es in einem chinesischen Spruch. Die deutsche Küche hat es nicht einfach neben der türkischen. Im Herzen bleiben die meisten Türken in Deutschland auch in der dritten Generation – Türken.

Deutschland klammert sich auch nach vierzig Jahren fortdauernder Einwanderung an die Wunschvorstellung, es sei kein Einwanderungsland, die multikulturelle Gesellschaft ein Zustand, den man durch markante Sprüche wegzaubern kann. Die Politik versäumt es, Mechanismen zu entwickeln, um den Einwanderungsprozeß so zu gestalten, daß er für die deutsche Mehrheit akzeptierbar wird.

Mit den Auswirkungen der Einwanderung bleiben die Menschen oft allein gelassen. Dieser Zustand fördert die Xenophobie, nährt irrationale Ängste und Vorurteile. Im Bereich der Kultur fehlt eine Bewußtseinsarbeit, die das Phänomen der Einwanderung als deutsche Wirklichkeit wahrnehmbar machen würde. Deutsches Theater, deutsche Filme und Literatur reflektieren in viel zu ungenügendem Maße die Veränderungen, die durch die Anwesenheit von Millionen Menschen fremder Herkunft in Deutschland eingetreten sind. Die Einwanderer sind in der deutschen Kultur noch nicht angekommen.

Deutsche und Türken in Deutschland sind einander nähergekommen, als man denkt. Alle Probleme, die heute mit dem Scheitern der multikulturellen Gesellschaft in Verbindung gebracht werden, haben mit dieser Nähe zu tun und mit der Erkenntnis, daß diese Nähe nicht unbedingt einhergeht mit dem Verschwinden des Fremden, mit seiner Assimilation.

Gerade in Berlin ist die Zahl der Einbürgerungsanträge besonders hoch. Nirgendwo fühlen sich Türken ihrer neuen Heimat Deutschland näher als in Berlin. Sie haben viele historische Stunden dieser Stadt miterlebt, mitgestaltet, mitgetragen.

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