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Deutsche Urlaubsgewohnheiten (1. April 2004)

Der Verfasser dieses Artikels bemerkt, dass die Suche nach dem perfekten Urlaubserlebnis für die Deutschen oft mit einer schweren Enttäuschung ende. Er argumentiert, unrealistische Erwartungen hätten zu einer Kultur des Beschwerens geführt, die ihren deutlichen und eloquenten Ausdruck in der Zahl schriftlicher Beschwerden an Reiseveranstalter finde. Der Autor findet Ironie in dem Umstand, dass in vielen Fällen der Wunsch der Deutschen, durch Reisen ihren Horizont zu erweitern erst ihre tatsächliche Engstirnigkeit enthülle. Sein weit ausholender Artikel endet mit einer Beschreibung des Tourismus in den neuen Bundesländern.

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Wie die Deutschen Urlaub machen

„Urlauben“ ist ein sehr deutsches Tätigkeitswort. Wir mühen uns um Horizonterweiterung, ziehen wegen Kakerlaken vor Gericht. Und glauben: Touristen, das sind immer die anderen.



Hunderttausende deutscher Urlauber setzen sich nach den Ferien an den Computer, um ihrem Herzen Luft zu machen. Die wortreich zu Papier gebrachten Beschwerden lesen sich zum Beispiel so: „Aus Altersgründen, ich bin 61, meine Frau 59, hatten wir das ebenerdige Appartement Nr. 234 genommen. Da das Haus nur mit Deutschen belegt war, ließen wir die Balkontür nachts offen. Am Morgen des dritten Tages wurde nicht nur ich, sondern viele Nachbarn durch die grellen Schreie meiner Frau geweckt, weil ein großer Schäferhund über die Brüstung gesprungen war und meiner Frau im Schlaf die Beine geleckt hat. Sie war dadurch nicht nur minutenlang gelähmt, sondern so geschockt, dass der ganze Urlaub buchstäblich vor den Hund ging. Da Sie für die Sicherheit Ihrer Gäste verantwortlich sind, fordere ich für dieses Erlebnis von Ihnen zunächst mindestens den halben Reisepreis für meine Frau zurück.“

Auf keinen anderen Tagen des Jahres lastet ein derartiger Erwartungsdruck wie auf dem Urlaub, sieht man von Weihnachten einmal ab. Es ist gut möglich, in der Ferienzeit in eine Krise zu stürzen oder einer Depression zu verfallen. Was psychologisch schwer zu lösen ist, wird schnell auf die äußeren Umstände projiziert. Krabbelt eine Kakerlake durchs Bad oder hängt ein Gecko kopfüber von der Zimmerdecke im Hotel, folgt Monate später der Gang zum Kadi. Kleinste Irritationen führen zu großen Beschwerden. Man macht sich keine Vorstellung davon, was in den Rechtsabteilungen deutscher Touristik-Konzerne los ist. Aus Reise-Angestellten sind Beschwerdemanager geworden, denn die Bundesbürger haben sich den Titel „Weltmeister des Klagens“ redlich erarbeitet.

Deutschland war die erste Nation in Europa, die das Reiserecht im Bürgerlichen Gesetzbuch verankerte. Damit sollten handfeste Kriterien für eine Klage geschaffen werden und einzelne Rechtsstreitigkeiten weniger dem richterlichen Ermessen überlassen bleiben. Der Jurist Otto Tempel erfand dazu die so genannte Frankfurter Tabelle. Akribisch listet sie auf, wie viel Prozent vom Reisepreis angesichts welcher Mängel zurückgefordert werden können. Ungeziefer bringt 10 bis 50 Prozent. Kakerlaken zählen jedoch erst bei mehr als 10 Exemplaren.

Keine andere Nation beharrt auf der perfekten Urlaubswelt so sehr wie die deutsche, und kaum eine andere Nation kennt Urlaub als Tätigkeitswort: Urlauben! Wer urlaubt, legt nicht die Hände in den Schoß; die Linguistik zeigt, dass Urlaub mitnichten das Gleiche bedeutet wie Ferien, also Ruhe- oder Feiertage. Der aktive Urlaub beginnt damit, die Frankfurter Tabelle in den Koffer zu packen (manche legen die Kakerlaken gleich dazu) und vor Ort nach Missständen statt nach Schönheiten zu suchen. Angefeuert wird das deutsche Beschwerdetum von der Boulevardpresse. In schöner Regelmäßigkeit veröffentlicht sie kurz vor Beginn der Reisesaison die Frankfurter Tabelle wie ein Grundrecht auf Rabatt. Was sie nicht veröffentlicht, ist die Tatsache, dass nur ein Bruchteil aller Klagen den erhofften Erfolg bringt.

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