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Friedrich Diesterweg: „Pädagogisches Krebsbüchlein” (1856)

Der Schullehrer und berühmte Vertreter fortschrittlicher Pädagogik Friedrich Adolf Diesterweg (1790-1866) kritisiert in seinem Essay mit dem symbolischen Titel „Pädagogisches Krebsbüchlein“ die Rückwärtsgewandtheit von Vertretern traditioneller Lehrmethoden. Diese beißende Satire führt die „besten" Methoden vor, durch die angehende Lehrer so manipuliert werden können, dass sie zu rückständigen, unselbständigen und unqualifizierten Marionetten des Erzkonservatismus werden.

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Pädagogisches Krebsbüchlein,
in Rezepten für alte und junge Krebse der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

1. Regeln für die Erziehung zur Abhängigkeit

1. Dringe stets, auch wenn der Zögling heranwächst, auf unbedingten, stummen Gehorsam gegen Deine Befehle!
2. Gewöhne ihn an die Regel der Willkür: tel est mon bon plaisir.
3. Nenne ihm nie einen Grund Deines Beliebens! Behandle ihn stets als „dummen Jungen"!
4. Gewöhne ihn an rein äußerliches, mechanisches Lernen und Üben!
5. Überlaß die höheren Kräfte: Verstand, Urteilskraft, Vernunft, ihrem Schlummer; belaste dagegen das Wortgedächtnis mit schweren, unverständlichen Stoffen und toten Lernmassen zur mechanischen Übung!
6. Lege auch auf die Entwicklung der Zunge zur geläufigen Rede gar keinen Wert!
7. Durch öftere Wiederholung rede ihm den Glauben an seine Dummheit ein und an die Richtigkeit des Grundsatzes „vom beschränkten Untertanenverstande"!
8. Präge ihm außer der niedrigsten Meinung von sich selbst die höchste Meinung von andern, namentlich vor sogenannten höhergestellten Personen, ein!
9. Seinen Umgang beschränke auf bornierte, sklavisch und servil gesinnte Personen, im übrigen isoliere ihn und halte ihn ganz streng von dem Besuch von Vereinen, in welchen freie Meinungsäußerung herrscht, ab!
10. Von Büchern erlaube ihm nur solche, in welchen die absolute Autorität als dem schwachen Menschen geziemend und seligmachend geschildert wird!

Sollten diese Regeln Dir zur Erreichung des Zweckes noch nicht ausreichend erscheinen, so empfehle ich Dir noch zwei:

11. Erfülle seine Phantasie mit abergläubischen Vorstellungen von Hexen, Kobolden, Teufeln und Dämonen und
12. mache ihm, falls es ihm jemals einfallen sollte, sich die edlen Grundsätze, in und nach welchen er erzogen worden ist, aus dem Sinn zu schlagen, bange vor der Hölle, noch besser: führe ihn so, daß ihn bei jedem Zweifel oder jedem Versuch der Abweichung von der geraden und sicheren Straße, die Du ihn geführt hast, Herzklopfen und Selbstpein überfällt!

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