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Ernst Moritz Arndt, Auszüge aus Germanien und Europa (1803)

Der Dichter, Schriftsteller und nationalistische Publizist Ernst Moritz Arndt (1769-1860) wurde auf der damals zu Schweden gehörenden Insel Rügen geboren und studierte Geschichte und Theologie in Jena und Greifswald. In Jena geriet er unter den Einfluss Johann Gottlieb Fichtes, dessen antifranzösische Einstellung er teilte. 1801 begann Arndt eine Lehrtätigkeit an der Universität Greifswald. 1806 floh er angesichts der französischen Besatzung nach Schweden, wo er die nächsten drei Jahre verbrachte. Während seiner Greifswalder Zeit hatte er die Schrift Germanien und Europa (1803) verfasst, aus der hier ein Auszug wiedergegeben ist. Die ausgewählten Passagen machen deutlich, dass Arndt, wie auch Herder, Sprache und Kultur als Grundlage nationaler Identität ansah. Arndts Ansichten zu politischen, geografischen und linguistischen Grenzen sollten schließlich in „Des Deutschen Vaterland“, seiner berühmten patriotischen Hymne von 1813, ihren leidenschaftlichen lyrischen Ausdruck finden. Neben dem Herderschen Einfluss spiegelt der Text ebenfalls Fichtes Gedanken zu kultureller Reinheit wider, so argumentiert Arndt am Ende dieses Auszugs gegen das „Zusammenfließen“ von Kulturen und Völkern, das seiner Ansicht nach nur zum „Zerfließen“ oder der Auflösung derselben führen könne. Ebenfalls interessant ist Arndts Kritik am „herrschsüchtigen Ehrgeiz unserer Fürsten“. 1820, siebzehn Jahre nach der Veröffentlichung von Germanien und Europa, sollte Arndt wegen seiner Kritik an den deutschen Fürsten während der Restauration von seiner Professorenstelle in Bonn entlassen werden.

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Germanien und Europa

Ernst Moritz Arndt


[ . . . ] Nehmen wir Deutschland einmal als eine Einheit, die es wohl hätte werden können wie Frankreich und Großbritannien, die es aber nicht hat werden sollen; welche sind seine Naturgrenzen? Im Süden die Alpen und die Nordecke des Adriatischen Meeres; geographisch und linguisch würde die Schweiz fast ganz in diese Grenzen fallen; gegen Westen das Meer der französischen und batavischen Niederlande; diese Grenze ist seit dem sechszehnten Jahrhundert schon verletzt; das Nordmeer darf Deutschland ansprechen, weil fast der ganze Süden von Deutschland seiner Lage nach durch den Rhein sich dahin ziehen muß, Reichtümer und Kultur zu ernten; im Norden hat es nach seiner rechten Grenze die Eider und die Ostsee; und im Osten ist die jetzige politische auch allenfalls die geographische, weil sie überdem glücklich auch meistens die linguische ist. Diese Grenzen müßte das Vaterland auch als eine Einheit haben; jetzt hat sie die, so sie wirklich hat, nur politisch; denn die Vielherrschaft behauptet auch ihr besonderes Recht der Lage auf das Meer zum großen Nachteil der anderen. Die Oder und Elbe sind dem Böhmen und Sachsen vielleicht ebenso belastet, als ihnen, als Fremden der Tajo und der Po sein würden.

Von dieser Vielherrschaft brauche ich nichts Langes zu sagen; daß sie die Schande und das lange Unheil des Vaterlandes ist, das weiß ein jeder; daß sie vielleicht die Ursache der gänzlichen Unterjochung einst sein wird, das fürchten viele. Welche sind die Folgen dieser Vielherrschaft? Ich will nur einige kurz herrechnen.

Dieser Vielherrschaft verdankt es Deutschland, so wie Italien der seinigen, daß es seit dritthalb hundert Jahren der Schauplatz aller Kriege gewesen ist, die oft mit seinem Blute und auf seine Kosten geführt sind. Haben nicht fast alle Nationen Europens wechselweise es alle zehn, zwanzig, dreißig Jahre in Kriegen zertrampelt? Und hat ein anderes Land, Italien und in den letzten hundert Jahren Polen ausgenommen, ein gleich hartes Schicksal gehabt? England hat seit dem dreizehnten Jahrhundert, die schottischen Streifereien ausgenommen, fast keine fremden Soldaten als Feinde auf seinem Boden gesehen; nach Rußland hat fast seit hundert Jahren kein fremdes Volk den Fuß gesetzt; so ist es in Spanien und Frankreich, in Schweden und Dänemark; die Grenzen abgerechnet, wissen sie beinahe nicht was ein feindseliges Kriegsheer eines fremden Volkes mit sich bringt.

Aber nicht bloß von Fremden ist das Vaterland arg mitgenommen, und wird es bis auf den heutigen Tag; sondern der herrschsüchtige Ehrgeiz unserer Fürsten rief selbst diese Fremden gewöhnlich zum Verheeren herein, und lehrte die Deutschen, mit diesen und ihren Landsleuten sich die Hälse zerbrechen. So ist es gegangen, und geht es alle Tage. Der Deutsche hat die ersten irdischen Gefühle von einem Staate verloren, die freilich an sich selbst nicht edel sind, noch schön, aber doch alles Edlen und Schönen Boden. Ein Volk, das hundert Herren hat, kann nie glücklich sein noch groß, weil ihm das Bewußtsein der Stärke, die Liebe zu einer großen Gesamtheit, der Aufopferung für diese Gesamtheit, fehlt. Die Idee der Gemeinschaft und des Vaterlandes fehlt ihm, die dauernd größte für ein Volk. [ . . . ]

Ich habe schon mehr als einmal geäußert, was ich von der Universalität der Völker meine, und daß mir schlecht gefällt, was andere von einem allgemeinen Reiche und einem Zusammenschließen aller Völker mit der fortgehenden Vermenschlichung und Veredelung hoffen und träumen. Ich hasse jenes Zusammenfließen auf Erden, weil es ein Zerfließen, also ein politischer und moralischer Tod der verschiedenen Nationen wird. [ . . . ]




Quelle: Ernst Moritz Arndt, Germanien und Europa. Altona, 1803, S. 410ff. u. 423f.

Abgedruckt in Peter Longerich, Hg., Was ist des Deutschen Vaterland, Dokumente zur Frage der deutschen Einheit 1800 bis 1990. München und Zürich: Piper Verlag, 1990, S. 41-42.

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