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Ein ostdeutscher Schriftsteller beklagt die DDR-Nostalgie (31. August 2003)

Der ostdeutsche Schriftsteller Thomas Brussig kritisiert die Versuche der deutschen Medien, mit „Ostalgie-Shows“ Quote zu machen, anstatt durch eine objektive Einbeziehung ostdeutscher Leistungen in die allgemeine Berichterstattung dem Gedanken der inneren Einheit zu entsprechen.

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Murx, die deutsche Einheit

Abschied von der DDR ist okay. Aber die Ostalgie-Shows sind eine ausgewachsene Scheußlichkeit.


Straßenumfrage in Potsdam, anlässlich des 10. Jubiläums der Vereinigung der deutschdeutschen Telefonnetze am 1. Juni 1992. Sagt einer, Typ Handwerker, er hätte sein Telefon schon in der DDR bekommen – sechs Wochen, nachdem es beantragt war. Wie bitte??? Doch, sagt der Mann, und: „Es war nicht alles schlecht.“

Der 1. Juni 2002 war ein historischer Tag, ein Endpunkt der Ostalgie: Wenn nicht mal mehr das Telefonnetz (von 1000 Einwohnern hatten 27 Telefon) nicht schlecht gewesen sein soll, ja was denn dann? Nicht mal ein Satz wie „Die Vollbeschäftigung war ja in Ordnung, aber das mit dem Telefonnetz musste wirklich nicht sein“ wird bleiben.

Ostalgie gibt’s nicht erst, seitdem das Fernsehen sie entdeckt hat. Vor mehr als zehn Jahren hat der Dresdner Kabarettist Uwe Steimle den Begriff geprägt, und mindestens ebenso lange ist diese Stimmung virulent. Um sich den Boom an Ostalgie-Shows zu erklären, muss man wissen, wie Fernsehleute denken. Die sehen, dass der Kinofilm „Good Bye, Lenin!“ ein Riesenerfolg war, und sie denken neidisch: Oh, sechs Millionen Zuschauer hätten wir auch gern. Und dann machen sie mit den Mitteln des Fernsehens das, was sie in „Good Bye, Lenin!“ zu sehen glaubten. Zuallererst übersehen sie, dass jener Film es unterließ, unseren Geschmack zu beleidigen. Und der Erfolg dieses Films – meine Theorie – rührt daher, dass er etwas nachholt, was 1990 nicht geleistet wurde: den Abschied von der DDR. Sie wird mit Anstand unter die Erde gebracht. ’Ne Handvoll Sand drauf und noch mal das Sandmännchenlied. Abspann.


Mein Brechreiz ist ein aktueller

Die DDR-Shows buddeln den Sarg wieder aus. Wenn Dagmar Frederic mit einer ihrer Darbietungen auf dem Bildschirm erscheint, dann hat das nichts mit Nostalgie zu tun: Mein Brechreiz ist ein aktueller. Zur Nostalgie gehört, dass es weg ist, vorbei, verschwunden, erledigt. Und eine Dagmar Frederic ist auch heute Ostfernsehen, selbst wenn sie faltiger und hüftspeckiger ist als damals.

Ich bin ungerecht? I wo: Wissen Sie, wer meine größten Fans sind?, testfragte sie einst ihre Interviewerin. Das sind die Frauen. Wegen mir gibt’s nie Streit oder Eifersuchtsszenen – bei mir geht der Rock immer übers Knie! Deshalb ist Dagmar Frederic Ostfernsehen: Nur dieses konnte eine Moderatorin hervorbringen, die mit ihrer Reizlosigkeit protzt. Wahr ist ihre Antwort trotzdem: Ich (männlich) zähle mich nicht zu ihren Fans, Streit gibt’s wegen ihr nie: Wir schalten einvernehmlich weg.

Außer letztens. Da brachte das ZDF die erste dieser Nostalgie-Shows, und weil sowieso wieder alle Zeitungen/Rundfunkstationen/Fernsehsender wegen Statements bei mir anrufen würden, wollte ich mich wappnen. Allerdings hab ich kaum was gesehen, weil ich ständig aus dem Wohnzimmer rennen musste. Und immer kehrte ich zurück im Glauben, das Schlimmste sei überstanden – nur, um bald wieder die Flucht zu ergreifen.

Diese Nostalgie-Shows sind nicht nur eine ausgewachsene Scheußlichkeit, sie sind auch ein Missverständnis. Aufklärung gefällig? Gerne. Nahezu jeder – meine Theorie – empfindet nostalgisch. Früher war’s bekanntlich schöner, und Opa fand sogar den Ersten Weltkrieg klasse. Auch der Mensch, der aus der DDR kommt, ist so konstruiert. Die Erinnerungen sind ein Organ der Seele, wie der Magen ein Organ der Verdauung ist: Sie verarbeiten das Erlebte so, dass wir einen „Lebenssinn“ oder eine „Lebenserzählung“ herstellen können. Erinnerungen interessieren sich nicht dafür, wie es „wirklich“ war. Sie täuschen, betrügen, schmeicheln, unterschlagen. Sie wollen uns heimlich beim Glücklichwerden helfen.

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