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Wilhelm Heinrich Riehl über Bauernromane und wahre Bauern (1851)

Der Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl (1823-1897) beobachtet eine auffällige Beschäftigung mit der Figur des Bauern in neuen Romanen und gibt zu bedenken, inwieweit man denn eigentlich in den gebildeten Schichten der mittelständisch geprägten Schriftsteller die ländlich-bäuerliche Kultur und Lebensweise realistisch nachzuzeichnen im Stande sei. Indem er in dieselbe Kerbe schlägt wie Gustav Freytag mit seinem Bestehen auf Beobachtungen aus erster Hand, kritisiert Riehl die zunehmenden sentimentalen und romantisierenden Darstellungen des Landlebens.

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Der deutsche Bauer ist in der neuesten Zeit eine Art Modeartikel in der schönen Literatur geworden. Man könnte daraus zweierlei folgern. Die Ahnung von der Bedeutsamkeit einer zukunftreichen politischen Macht hat sich schon oft prophetisch in der Literatur ausgesprochen, bevor der Blick der praktischen Staatsmänner sie zu würdigen verstand. So, könnte man sagen, klopften jetzt die Bauern einstweilen in Dorfgeschichten und Romanen an, weil die Zeit nahe gekommen sey, wo das Vollgewicht ihres politischen Einflusses in der Wirklichkeit sich geltend machen werde. Andererseits mag man aber auch folgern, daß die Kluft, welche den Gebildeten von dem Bauern trennt, doch ungeheuer groß geworden seyn müsse, da die Eigenthümlichkeiten des Bauernlebens seltsamer Weise so neu erscheinen, daß man sie jetzt gar als die pikanteste Würze der bereits so stark überwürzten Romanliteratur ausbeutet. Es hat sich aber in diese Dorfgeschichten (die Auerbach'schen nicht ausgenommen) neben manchen der Natur abgelauschten Einzelheiten eine grundfalsche Auffassungsweise des Gemüthslebens der Bauern eingenistet. Der Bauer ist himmelweit entfernt von jeder modernen Sentimentalität und Gefühlsromantik; er ist dazu aus viel zu sprödem Stoff geformt, ja er ist in Sachen des Herzens oft geradezu roh. Dem Bauersmann ist die Familie heilig, aber die zärtliche Eltern-, Geschwister- und Gattenliebe, wie wir sie bei den Gebildeten voraussetzen, werden wir bei ihm vergebens suchen. Es ist leider nur allzu begründet, daß beispielsweise Impietät der erwachsenen Kinder gegen die bejahrten Eltern auf dem Lande sehr stark im Schwange ist, namentlich da, wo die Eltern beim Eintritt in das höhere Alter ihr ganzes Besitzthum den Kindern abgeben gegen die Pflicht des sogenannten „Aushaltes", d. h. der Ernährung und Pflege bis zum Tode. Wie es mit diesem Aushalte gar oft gehalten wird, das bezeugt die Bauernregel: „Zieh dich nicht eher aus, als bis du schlafen gehst." Diese Impietät entspringt aber im allgemeinen weit mehr aus Gefühlsrohheit, als aus Sittenverderbniß.

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Quelle: Wilhelm Heinrich Riehl, Die bürgerliche Gesellschaft. Stuttgart: J.G. Cotta, 1851, S. 51-52.

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