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Die Schriftstellerin Christa Wolf analysiert die Debatte zur ostdeutschen Literatur (27. September 1993)

Die Schriftstellerin Christa Wolf beschreibt eine Lesung ihrer Briefe aus dem kalifornischen Exil und die darauf folgende Diskussion um das Dilemma der Kollaboration mit der Stasi, der sie von westdeutschen Literaturkritikern bezichtigt wurde, sowie die Repression durch die Stasi, der sie ausgesetzt war, als sie versuchte, die Fehler des DDR-Sozialismus zu kritisieren.

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Montag, 27. September 1993
Berlin Pankow


[ . . . ]

Vor acht zur Staudengalerie [in Potsdam], die es schon gab, als wir oft hier bei meinem Vater waren, die jetzt von jüngeren Leuten übernommen wurde. Ein langer, schmaler Raum, an den Wänden Gemälde von mecklenburgischen Landschaften, zweihundertfünfzig Leute sind gekommen, ich zweifle, ob hier ein Gespräch möglich sein wird, worauf es mir ja ankommt. Vinke und ich müssen auf ein Podium, natürlich befallen mich wieder Zweifel, ob ich mich zu diesem Unternehmen hätte bereitfinden sollen, was tue ich hier, denke ich; ist das nicht schon wieder der reine Übermut. Man muß laut in das Mikrofon sprechen, damit man hinten im Saal verstanden wird, es geht um den Band »Akteneinsicht«, den Hermann Vinke herausgegeben hat, er und ich machen abwechselnd mit seinem Inhalt bekannt, ich lese aus den Briefen, die ich in Santa Monica geschrieben habe und die in dem Buch abgedruckt sind, es ist erst sechs, sieben Monate her, ich weiß alles noch, es hat sich eingegraben, und doch ist es eine abgeschlossene Phase, ich spüre, daß ich meine Emotionen von damals schon jetzt dem Publikum nicht mehr vermitteln kann. Oder ist die Distanz, die ich empfinde, ein Schutz, unbewußt aufgebaut gegen eine neue Überflutung durch unbeherrschbare Gefühle?

Die Diskussion fängt etwas schwerfällig an. Ein Mann fragt mich, ob der Satz in »Kassandra«: daß sie sich dafür schämt, früher gedacht zu haben: Ich will doch dasselbe wie ihr! auch auf mich selber zutreffe. Das kann ich bestätigen, spreche darüber, wie ich in der Kampagne gegen den »Geteilten Himmel« zuerst immer sagte: Aber ich will doch dasselbe wie ihr!, und wie ich, ziemlich schwer, lernen mußte, daß das nicht stimmte.

Jemand fordert mich auf, meine Entwicklung seit der Einsicht in die Akte, besonders meine IM-Akte, zu beschreiben. Ich versuche, so offen wie möglich über die verschiedenen Stadien zu sprechen, über den ersten Schock, den Schrecken über mich selbst, die Verzweiflung über die Unmöglichkeit, in der allgemeinen Stasi-Hysterie auf eine Differenzierung in der Öffentlichkeit rechnen zu können, auf die Gefahr, mich mit der Charakterisierung, die ich dann in der Öffentlichkeit erfuhr, zu identifizieren, auf die Therapie durch Schreiben und das allmähliche Wieder-Herausfinden aus der Depression bis zu dem jetzigen Zustand, da ich glaube, ich könne diese Episode, die immer ein wunder, auch ein dunkler Punkt bleiben werde, aus meiner Entwicklung heraus erklären. Während ich rede, merke ich, daß ich mir doch zu viel zugetraut habe, daß ich doch noch zu dünnhäutig bin für derartige Foren, aber jetzt gibt es kein Ausweichen mehr.

Eine ältere Frau schildert lange, was sie vor der Wende meinen Büchern entnommen habe, besonders sei ihr durch sie bewußt geworden, daß wir in einer Männergesellschaft leben, diese ganze Aktengeschichte interessiere sie überhaupt nicht; ob ich denn weiter über Frauenthemen schreiben werde. Ich sage, meine Erkenntnisse und Einsichten seien mir geblieben, es gebe Strukturen, die dem DDR-System zugrunde lagen, wie sie auch dem der Bundesrepublik zugrunde liegen: Beide waren oder sind Patriarchate, beide waren oder sind Industriegesellschaften – das werde im Hintergrund meines Schreibens stehen, auch wenn ich nicht im engeren Sinn feministische Themen behandeln werde.

Einer bezieht sich auf den Aufruf »Für unser Land«. Er hat einen meiner Briefe gründlich gelesen: Ich erkläre da, sagt er, in »Kassandra« hätte ich beschrieben, daß Troja untergehen müsse, weil es Menschenopfer fordere; dann aber hätte ich in dem Aufruf »Für unser Land« anscheinend die Erhaltung dieses Landes DDR gefordert: Ob das nicht ein Widerspruch sei. Mir war es nicht unlieb, das klarstellen zu können. Wir hätten doch in diesem Aufruf nicht etwa an die alte DDR gedacht, sagte ich, an ihren Erhalt oder gar an ihre Wiederauferstehung. Wir hätten für einen sehr kurzen geschichtlichen Augenblick an ein ganz anderes Land gedacht, das keiner von uns je sehen werde. Und das eine Illusion ist, was ich damals schon wußte. Trotzdem beteiligte ich mich an dem Aufruf, um mir später kein Versäumnis vorwerfen zu müssen. Für einen Moment spüre ich noch einmal die Atmosphäre der Monate vor vier Jahren, in die ich mich sonst kaum noch zurückversetzen kann.

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