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Aufruf zum offenen Dialog: Regierungsprogramm von Egon Krenz (24. Oktober 1989)

Am 18. Oktober 1989 musste Erich Honecker zurücktreten. Als sein handverlesener Nachfolger Egon Krenz einen offenen Dialog mit der immer stärker werdenden Opposition vorschlug, blieb die Öffentlichkeit skeptisch, nicht nur, weil er einige Monate zuvor das chinesische Blutbad am Tiananmen-Platz gerechtfertigte hatte.

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Der Auftrag des Volkes an uns, verehrte Abgeordnete, erlegt uns heute drängender denn je die Pflicht auf, mit Kompetenz, Konsequenz und Mut zur Wahrheit auf die Erfordernisse der Zeit zu reagieren und ständig bessere Antworten auf die nicht einfachen Fragen zu finden, die in unserem Lande der Lösung harren. Alles, was wir tun, wird stets und vor allem an den Wirkungen für die Menschen zu messen sein. [ . . . ]

Die Erneuerung unserer Gesellschaft, die wir erstreben, braucht das feste sozialistische Fundament, das wir gemeinsam gelegt haben. Darin sind wir uns alle einig – wir alle im demokratischen Bündnis: Erneuerung braucht die Solidität und die Identität, die im Geschichtlichen wurzeln, ohne daß wir über Fehler und deformierende Einseitigkeiten hinweggehen, die den Bau unserer neuen Ordnung in vergangenen Jahrzehnten auch begleitet haben. [ . . . ]

Die Vielfalt der Meinungen bereitet den Boden für einen fundierten und freimütigen Dialog. Aus dem Für und Wider in der Debatte um die besten Varianten für die Ausgestaltung unserer Gesellschaft erwächst die Chance, die zum gegebenen Zeitpunkt effektivste und damit für die Bürgerinnen und Bürger beste Lösung zu finden. Grundlage dafür ist Artikel 1 der Verfassung unseres Landes: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei.“ Alles, verehrte Abgeordnete, was wir an Reformen durchzuführen haben, und wir wollen sie durchführen, ist diesem vom Volke gegebenen Auftrag verpflichtet. [ . . . ]

Die Zusammenarbeit aller Parteien, das demokratische Bündnis aller Kräfte des Volkes in der Nationalen Front erhält einen neuen Rang. Das Nachdenken darüber schließt ein, im sachlichen Dialog vor Ort Wege zu finden, um alle, die im Sinne der Verfassung dem nationalen und internationalen Interesse verpflichtet sind, mit ihren Fragestellungen und Angeboten zur Mitarbeit in kommunale und gesellschaftliche Entscheidungsprozesse einzubeziehen. [ . . . ]

Wir sollten alles tun, um jede Zuspitzung oder gar Konfrontation zu vermeiden. Diese würde die Gefahr heraufbeschwören, vieles, was in Bewegung gekommen ist, in Frage zu stellen. Demonstrationen, so friedlich sie gedacht und angelegt sein mögen, tragen in dieser komplizierten Zeit immer die Gefahr in sich, anders zu enden, als sie begonnen haben. Zu Recht beunruhigt das viele Bürger in unserem Lande. Unsere Gesellschaft, die so vieles Neue in Angriff zu nehmen hat, wird dadurch zusätzlich unter Spannung gesetzt. So wichtig Dialog und Debatte sind – und ich bekenne mich dazu hier und zu jeder Zeit –, aber das Brot des Volkes ist nur in gewissenhafter, von der eigenen Verantwortung für das Ganze bestimmter gemeinsamer Arbeit zu schaffen. [ . . . ]

Die Demonstrationen mögen ihre Funktion gehabt haben, aber unsere Gesellschaft, und da schließe ich alle ihre Mitglieder ein, braucht heute weniger denn je die Konfrontation ihrer Bürger, sondern mehr denn je den sachlichen Dialog über die gegensätzlichen Ideen und Meinungen. Das haben Beispiele der letzten Tage bewiesen. Dafür tragen alle Verantwortung. Es bleibt unser erklärter Wille, und das will ich von dieser Tribüne noch einmal erklären, politische Probleme mit politischen Mitteln zu lösen. [ . . . ]

Niemand sollte aus der politischen Entwicklung in der DDR falsche Schlußfolgerungen ziehen. Die Deutsche Demokratische Republik ist ein souveräner sozialistischer Staat, und alles, was hier geschieht, unterliegt der souveränen Entscheidung unseres Landes und seiner Bürger. NATO-Konzeptionen und „Ratschläge“, die den Sozialismus bei uns wegreformieren wollen, haben auch künftig keine Chance! [ . . . ]



Quelle: Egon Krenz, Das Wohl des Volkes ist unser elementarer Leitsatz: Erklärung des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR vom 24. 10. 1989 vor der Volkskammer der DDR. Berlin, 1989, S. 5-15.

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