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Lothar de Maizières Regierungsprogramm (19. April 1990)

Vor der neu gewählten Volkskammer umreißt Ministerpräsident Lothar de Maizière (CDU) sein Regierungsprogramm, das auf eine rasche Vereinigung abzielt, gleichzeitig aber auf für die ostdeutsche Bevölkerung akzeptable Bedingungen pocht, die darin bestehen, den Wohlstand des Westens mit dem Osten zu teilen.

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Die Erneuerung unserer Gesellschaft stand unter dem Ruf »Wir sind das Volk!«. Das Volk ist sich seiner selbst bewußt geworden. Zum erstenmal seit vielen Jahrzehnten haben sich die Menschen in der DDR als Volk konstituiert. Die Wahlen, aus denen dieses Parlament hervorgegangen ist, waren Wahlen des Volkes. Zum erstenmal trägt die Volkskammer ihren Namen zu Recht.

Und aus dem Ruf „Wir sind das Volk!“ erwuchs der Ruf „Wir sind ein Volk!“. Das Volk in der DDR konstituierte sich als Teil eines Volkes, als Teil des einen deutschen Volkes, das wieder zusammenwachsen soll. Unsere Wähler haben diesem ihrem politischen Willen in den Wahlen vom 18. März 1990 deutlich Ausdruck verliehen. Dieser Wille verpflichtet uns. Ihn so gut wie nur möglich zu erfüllen ist unsere gemeinsame Verantwortung. [ . . . ]

Der Wählerauftrag, dem die Regierung verpflichtet ist, fordert die Herstellung der Einheit Deutschlands in einem ungeteilten, friedlichen Europa. Diese Forderung enthält Bedingungen hinsichtlich Tempo und Qualität.

Die Einheit muß so schnell wie möglich kommen, aber ihre Rahmenbedingungen müssen so gut, so vernünftig und so zukunftsfähig sein wie nötig.

Die Diskussionen um die Währungsumstellung 1:1 oder 1:2 haben uns mit aller Deutlichkeit vor Augen geführt, daß hier ein Zusammenhang besteht und daß wir Bedingungen vereinbaren müssen, die sichern, daß die DDR-Bürger nicht das Gefühl bekommen, zweitklassige Bundesbürger zu werden. Beide Anliegen, Tempo und Qualität, lassen sich am besten gewährleisten, wenn wir die Einheit über einen vertraglich zu vereinbarenden Weg gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes verwirklichen.

Seit dem Sommer des vorigen Jahres haben wir viele schöne Zeichen der Freundschaft, der Hilfsbereitschaft und der Offenheit der Bundesbürger erlebt. Aber wir sehen mit Sorge auch Tendenzen schwindender Bereitschaft, abzugeben und solidarisch zu sein.

Daher eine herzliche Bitte an die Bürger der Bundesrepublik: Bedenken Sie, wir haben 40 Jahre die schwerere Last der deutschen Geschichte tragen müssen. Die DDR erhielt bekanntlich keine Marshall-Plan-Unterstützung, sondern sie musste Reparationsleistungen erbringen. Wir erwarten von Ihnen keine Opfer. Wir erwarten Gemeinsamkeit und Solidarität. Die Teilung kann tatsächlich nur durch Teilen aufgehoben werden.

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