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Paul Göhre beschreibt einen Wahlkampf der Sozialisten in Chemnitz (1890)

Paul Göhre (1864-1924) war ein protestantischer Pastor und Sozialreformer, der 1890 drei Monate lang als verdeckter Fabrikarbeiter in Chemnitz lebte, um aus erster Hand das Arbeiterdasein zu erleben. Während dieser Zeit beobachtete er den lokalen Wahlkampf der Sozialdemokraten, die den Wahlkreis in Chemnitz beherrschten – ebenso wie viele weitere städtische, industrielle Gebiete. Hier ist festzustellen, dass die Sozialisten sich selbst unter dem Sozialistengesetz, das damals noch immer in Kraft war, erfolgreich organisieren und agitieren konnten. Göhre beschreibt, wie die Partei die Arbeiter politisch schulte, ihre Loyalität aber auch durch Kultur- und Freizeitaktivitäten gewann.

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Chemnitz ist einer der ältesten und ersten Sitze der deutschen Sozialdemokratie. Schon im Jahre 1867 schickte es den Sozialdemokraten und Dresdner Kupferschmiedemeister Försterling in den Norddeutschen Reichstag, der freilich bald nachher wieder aus ihm ausschied. Dann kurz nach dem Kriege schlug der „wütende Most“ sein Hauptquartier in Chemnitz auf und wurde daselbst 1874 sowohl wie 1877 als Reichstagsabgeordneter gewählt. 1878 bei den Neuwahlen nach den Attentaten fiel er allerdings durch, doch eroberte die Sozialdemokratie den Kreis im Jahre 1881 durch den Breslauer Schriftsteller Bruno Geiser sich wieder zurück, um ihn auch 1884 zu behaupten; 1887 verlor sie ihn jedoch abermals. Aber schon bei den letzten Wahlen 1890 wurde wieder ein Sozialdemokrat, der bekannte Max Schippel, dessen Vater in Chemnitz Schuldirektor ist, gewählt.

Fast 25 Jahre hindurch also wird in Chemnitz und Umgegend von der Sozialdemokratie agitiert, und immer waren es Parteigrößen, die hier „in Arbeit“ standen. So ist es nicht verwunderlich, daß schon 1881 über 10 000 und 1887 über 15 000, 1890 gar 34642 sozialdemokratische Stimmen abgegeben wurden, und daß in dem Vororte, in dem unsre Fabrik stand und die Mehrzahl von uns wohnte, bei der letzten Wahl 700 sozialdemokratische und nur 150 sogenannte „reichstreue“ Stimmen gezählt worden sein sollen.

Dieser Vergangenheit würdig, war auch während des letzten Sommers die Agitation der Partei ununterbrochen rege, auch hier wie an den meisten Orten Deutschlands überhaupt die einzige, die zu bemerken war. Sie war durchaus planmäßig, kraftvoll und ins einzelne gehend. Allwöchentliche große öffentliche Versammlungen für Angehörige irgend eines Arbeitszweigs oder auch für Männer und Frauen überhaupt hielten die Aufmerksamkeit der gesamten arbeitenden Bevölkerung für die Arbeiterpartei zunächst im allgemeinen lebendig. Freilich waren diese Versammlungen, wenigstens die, die ich mitgemacht habe, meist nur dürftig besucht; und nur wenn ein besondrer Anlaß eine Reihe bestimmter Berufszweige zugleich beschäftigte, oder ein bekannter von auswärts zitierter Redner, eine sozialdemokratische Größe auftrat, schwollen sie zu imposanten Massenversammlungen an; sonst schwankte die Durchschnittszahl der Besucher wohl immer zwischen 1—200 Mann; es waren die in der Bewegung voranstehenden Arbeiter, die immer den Ton angaben, wo etwas Sozialdemokratisches los war. Meist waren das gut situierte Leute. Ich erinnere mich, daß ich in der ersten derartigen Versammlung, zu der ich als Arbeiter in die Stadt hineinkam der einzige war, der im schmutzigen Arbeitszeug, ohne weißen Kragen und Schlips erschien; die andern hatten alle bessere Kleidung an. Jedenfalls aber erregten diese Versammlungen schon durch die ständigen großen roten Plakate, die sie vorher an allen Ecken und Enden der Stadt und Vorstädte ankündigten, ihren Zweck: die Aufmerksamkeit der Bevölkerung für die Bewegung wachzuhalten. Im übrigen bildeten sie nur den Rahmen für die intensivere besondre Agitation in den einzelnen Stadtteilen und Vorstadtdörfern.

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