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Die Frau des britischen Botschafters in Berlin schreibt an Queen Victoria über Bismarcks politische Allmacht (27. Dezember 1880)

Lady Emily Russell war verheiratet mit dem britischen Botschafter im Deutschen Reich (1871-1884), Lord Odo Russell (1829-1884). Während der deutsche Kanzler sehr daran interessiert war, Russells Vorgänger, Lord Augustus Loftus (1817-1904), loszuwerden, schien er Russell zu mögen, der als „Bismarcks Lieblingsengländer“ bezeichnet worden ist. Doch wie der folgende Brief nahe legt, dürfte Russells Frau (die bis 1927 lebte) kaum Bismarcks Lieblingsengländerin gewesen sein. Der Brief beginnt damit, dass die Frau des Botschafters Queen Victoria für die Verleihung der Peerswürde an ihren Mann dankt. (Russells Erhebung zum Baron Ampthill wurde am 11. März 1881 im Staatsanzeiger bekannt gegeben.) Der deutsche Kaiser, den Lady Russell erwähnt, ist Wilhelm I. Dessen Sohn, Kronprinz Friedrich Wilhelm, war mit Königin Victorias Tochter vermählt; er regierte als Kaiser Friedrich III. für lediglich 99 Tage im Jahr 1888, bevor er an Kehlkopfkrebs verstarb und sein Sohn Kaiser Wilhelm II. die Nachfolge antrat. Der Kronprinz und seine Frau widersetzten sich Bismarcks faktischer Diktatur in den 1880er Jahren so energisch wie sie vermochten (wie aus einem der folgenden Dokumente hervorgeht). Lady Russell teilte offensichtlich ihre Abneigung gegen Bismarcks „absolute Macht“ und seine Fähigkeit, Deutschland zu „terrorisieren“.

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Lady Emily Russell an Queen Victoria.

Britische Botschaft, Berlin, den 27. Dezember 1880.

[ . . . ]

Der Kronprinz hat mich mit einem Besuch geehrt, gleich als er in Berlin ankam, und Odo sah seine kaiserliche Hoheit auf der Jagd im Grünewald [sic], als er vom Kaiser gnädigst zur Chasse [Jagd] eingeladen wurde, die für den König von Sachsen und Prinz Georg vorbereitet worden war. Uns beiden fiel auf, dass seine kaiserliche Hoheit nicht sehr gut aussah, und jeder denkt, er sei eher niedergeschlagen und unpässlich, und bemerkte, dass der Kronprinz beim Jagdfrühstück, als der Kaiser und der König mehr denn je heiter und liebenswert waren, in Gedanken verloren schien und nicht an den allgemeinen Gesprächen teilnahm, die sehr angeregt und interessant waren. Jene, die den Kronprinzen gut kennen, vermuten, dass er besorgt ist und es ihn quält, den Kaiser so vollständig unter dem Einfluss Prinz Bismarcks zu sehen, dessen Politik bezüglich innenpolitischer Fragen und Reichsangelegenheiten er nicht billigt; und er fürchtet, die Öffentlichkeit wird seinen Vater verantwortlich machen für die willkürlichen und verfassungswidrigen Verfahren, an denen der Kanzler Vergnügen findet.

Die Eingeweihten wissen, dass der Kaiser seit den schrecklichen Attentatsversuchen 1878* Prinz Bismarck erlaubt hat, seinen Willen in allem durchzusetzen; und der große Kanzler hat seine wahre Freude an der von ihm erlangten absoluten Macht und schaltet, wie er will. Er lebt auf dem Lande und regiert das Deutsche Reich, ohne sich auch nur zu bemühen, hinsichtlich seiner Pläne den Kaiser zu konsultieren, der über die anstehenden Dinge erst aus den Dokumenten erfährt, für die seine Unterschrift nötig ist, und die seine Majestät ohne Fragen oder Zögern unterzeichnet. Niemals ist einem Untertan so viel unverantwortliche Macht von seinem Souverän gewährt worden, und nie zuvor hat ein Minister eine Nation mit furchtbarerer individueller und gleichermaßen allgemeiner Angst erfüllt. Kein Wunder also, dass der Kronprinz besorgt sein sollte um die Zustände, für deren Beseitigung er nicht mehr persönliche Macht oder Einfluss besitzt als jeder beliebige Mensch in Preußen, so lange Prinz Bismarck lebt und Deutschland von Friedrichsruhe aus mit der stillschweigenden und heiteren Zustimmung des Kaisers terrorisiert.

Bismarck hat schrittweise ein Ministerium von Sekretären aus den Regierungsbehörden ernannt, die tun, was er von ihnen verlangt, und indem er jedes Mal, wenn der Bundesrat nicht mit ihm übereinstimmte, mit seinem Rücktritt drohte, hat er dessen Mitglieder derart verängstigt, dass sie nun in völligem Gehorsam mit seinen Anweisungen abstimmen. Der Kanzler erwartet nun, dass er, durch sorgfältiges Vorgehen, bei der nächsten Wahl die absolute Mehrheit erlangen wird, die er braucht, um seine neue Steuer- und Wirtschaftspolitik durchzusetzen.

Falls Bismarck jemals plötzlich an einer Magenverstimmung sterben sollte, was seine Ärzte befürchten und voraussagen, werden die Schwierigkeiten einer Reform der verbreiteten Missstände, die sein persönliches Regiment verursacht hat, groß sein, und es wird eine harte und undankbare Aufgabe für den Monarchen sein, der Minister finden und ernennen wird müssen, die den Konstitutionalismus in Preußen wieder herstellen können.


* In jenem Jahr wurde der Kaiser zweimal angeschossen und einmal schwer verwundet.



Quelle: Lady Emily Russell, Berlin, to Queen Victoria, London, December 27, 1880. Original.

Abgedruckt in George Earle Buckle, ed., The Letters of Queen Victoria: A Selection from Her Majesty’s Correspondence and Journal Between the Years 1862 and 1885, Second Series, 3 vols. Toronto: Ryerson Press, 1928, vol. 3, S. 168-70.

Übersetzung: Erwin Fink

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