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Gerhart Hauptmann, Vor Sonnenaufgang, Uraufführung und skandalträchtige Aufnahme durch das Publikum (20. Oktober 1889)

Gerhart Hauptmann (1862-1946) war ein deutscher Schriftsteller und Dramatiker, der zu einem der Hauptvertreter des Naturalismus wurde. Im Jahr 1912 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Sein erstes Drama, Vor Sonnenaufgang, wurde am 20. Oktober 1889 uraufgeführt und löste unmittelbar einen Skandal aus. Das Publikum war die von Hauptmann verwendete Sprache nicht gewohnt, in der er lokale Dialekte mit energischen Dialogen ergänzte. Der heikle Stoff steigerte den Eklat noch, indem er solche Themen wie Umweltschutz, Alkoholismus, Selbstmord und die Auswirkungen der Vererbung verquickte. (In dem Stück verliebt sich Alfred Loth, ein junger Sozialist, in Helene Krause, die Schwägerin eines ehemaligen Studienkollegen, der zu einem skrupellosen Kohlebergbauingenieur wird, nachdem man auf dem familieneigenen Land Kohlevorkommen entdeckt hat. Letzten Endes verlässt Alfred Helene, die Selbstmord begeht.) Aufgrund des im Theater aufbrandenden Tumults konnten die Schauspieler die Aufführung kaum zu Ende bringen. Diese Textpassage vermag die volle Wirkung des Stücks nicht zu vermitteln, doch sie gibt eine Kostprobe der von Hauptmann verwendeten Sprache und seiner Sensibilität für die Notlage der Unterschichten.

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DRAMATIS PERSONAE

KRAUSE, Bauerngutsbesitzer
FRAU KRAUSE, seine zweite Frau
HELENE Krauses Tochter erster Ehe
MARTHA Krauses Tochter erster Ehe
HOFFMANN, Ingenieur, verheiratet mit Martha
WILHELM KAHL, Neffe der Frau Krause
FRAU SPILLER, Gesellschafterin der Frau Krause
ALFRED LOTH
DOKTOR SCHIMMELPFENNIG
BEIBST, Arbeitsmann auf Krauses Gut
GUSTE Magd auf Krauses Gut
LIESE Magd auf Krauses Gut
MARIE Magd auf Krauses Gut
BAER, genannt Hopslabaer
EDUARD, Hoffmanns Diener
MIELE, Hausmädchen bei Frau Krause
DIE KUTSCHENFRAU
GOLISCH, genannt Gosch, Kuhjunge
EIN PAKETTRÄGER



Erster Akt

[ . . . ]

FRAU KRAUSE erscheint, furchtbar aufgedonnert. Seide und kostbarer Schmuck. Haltung und Kleidung verraten Hoffart, Dummstolz, unsinnige Eitelkeit.

HOFFMANN. Ah! da ist Mama! — Du gestattest, daß ich dir meinen Freund Doktor Loth vorstelle.

FRAU KRAUSE* macht einen undefinierbaren Knicks. Ich bin so frei! Nach einer kleinen Pause. Nein aber auch, Herr Doktor, nehmen Sie mir’s ock bei Leibe nicht ibel! Ich muß mich zuerscht muß ich mich vor Ihn’ vertefentieren – sie spricht je länger, um so schneller —, vertefentieren wegen meiner vorhinigten Benehmigung. Wissen Se, verstihn Se, es komm ein der Drehe bei uns eine so ane grußmächtige Menge Stremer ... Se kinn’s ni gleba, ma hoot mit dan Battelvulke seine liebe Not. A su enner, dar maust akrat wie a Ilster. Uf da Pfennig kimmt’s ins ne ernt oa, ne ock ne, ma braucht a ni dreimol rimzudrehn, au ken’n Toaler nich, ebb ma ’n ausgibbt. De Krausa-Ludwig’n, die iis geizig, schlimmer wie a Homster egelganz, die ginnt ke’m Luder nischt. Ihrer is gesturba aus Arjer, weil a lumpigte zwetausend ei Brassel verloern hoot. Ne, ne! a su sein mir dorchaus nicht. Sahn Se, doas Buffett kust’t mich zweehundert Toaler, a Transpurt ni gerechnet; na, d’r Beron Klinkow koan’s au ne andersch honn.


* ‘FRAU KRAUSE. Ich bin so frei! Nein, aber auch, Herr Doktor, nehmen Sie mir’s doch beileibe nicht übel! Ich muß mich zuerst, zuerst muß ich mich vor Ihnen entschuldigen, entschuldigen wegen meines vorherigen Benehmens. Wissen Sie, verstehen Sie, es kommen in einem fort bei uns eine so sehr große Menge Stromer ... Sie können’s nicht glauben, man hat mit dem Bettelvolk seine liebe Not. So einer, der stiehlt akkurat [genau] wie eine Elster. Auf den Pfennig kommt’s uns nicht etwa an, nein doch, nein, man braucht ihn nicht dreimal herumzudrehen, auch keinen Taler, eh’ man ihn ausgibt. Die Krause-Ludwig, die ist geizig, schlimmer als ein Hamster, genau, die gönnt keinem Luder etwas. Ihr Mann ist aus Ärger gestorben, weil er lumpige zweitausend in Breslau verloren hat. Nein, nein! so sind wir durchaus nicht. Sehen Sie, das Büfett kostet mich zweihundert Taler, der Transport nicht gerechnet; nun, der Baron Klinkow kann’s auch nicht anders haben.’

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