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Ferdinand Avenarius über die schönen Künste: Erstausgabe von Der Kunstwart (1. Oktober 1887)

Ferdinand Avenarius (1856-1923) studierte Naturwissenschaften, Philosophie, Literatur und Kunstgeschichte. In den 1880er Jahren arbeitete er als Schriftsteller und Publizist in Dresden. Im Jahr 1887 begründete er die Zeitschrift Der Kunstwart, die er bis 1923 herausgab. Der folgende programmatische Artikel wurde in der ersten Ausgabe von Der Kunstwart im Oktober 1887 veröffentlicht. Darin kritisiert Avenarius die zeitgenössische deutsche Gesellschaft für ihre Bevorzugung der Vernunft und Wissenschaft und Vernachlässigung der Künste. Darüber hinaus beklagt er das Fehlen beständiger, einheitlicher Prinzipien in der deutschen Kunst.

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Unsere Künste. Zum Überblick.*

Bevor wir die Reihe der Aufsätze eröffnen, die an dieser Stelle wichtigen Zeit- und Streitfragen unseres Kunstlebens sich widmen sollen, werfen wir einen schnellen Überblick über den Stand der Künste in der Gegenwart. Er soll nichts weiter, als uns noch einmal des Weges bewußt werden lassen, den wir gehen.

Vielleicht werden künftige Forscher bei der Kennzeichnung des Geistes, der in unserem Geschlechte waltete, Eines als ein Wichtiges hervorheben: die fast unbeschränkte Hochschätzung der Verstandesbildung auf Kosten der Bildung von Empfindung und Phantasie. Und, entwickeln wir uns überhaupt einem harmonischen Menschentume entgegen, so dürfte ihnen nicht schwer werden, aus jener Thatsache allein zu beweisen, daß sich die geistige Kultur unserer Zeit auf einer reinen Höhe nicht befunden habe. Nach der Empfindungsschwelgerei im Zeitalter der Sentimentalität, nach der einseitigen Pflege ästhetischen Genießens, die im Bewußtsein der großen Menge der Gebildeteren ihr folgte, erscheint der heutige Kultus des Verstandes und Willens freilich fast wie die nachträgliche Stärkung eines vernachlässigten Organs. Auf der Höhe der Menschheit aber schreitet ein Geschlecht erst dann, wenn es die ebenmäßige Ausbildung all seiner Kräfte erstrebt und erreicht hat.

Es war eine Folge der Schwächung der Phantasie in der jüngeren Vergangenheit, daß, was man an den Kunstwerken schätzte, mehr und mehr ein Äußerliches ward. Wir sprechen nicht von dem Hauptinteresse der Massen, dem stofflichen, das ganz aus dem Bereich des Künstlerischen hinausfällt, nicht von der Teilnahme für den Gegenstand der Darstellung, statt für die Darstellung selbst, nicht von der Freude am Was, statt am Wie. Wir sprechen davon, daß mehr und mehr auch im rein künstlerischen Empfangen der niedere Genuß den höheren verdrängt hatte. Das rein sinnliche Gefallen des Ohres am wohltönenden Reime oder am angenehmen Klang, des Auges an der gefälligen Linie oder reizenden Farbe hatte das Empfinden dafür abgestumpft, daß dieser Reim oder Ton, diese Linie oder Farbe vielleicht sehr schlecht ihre Hauptaufgabe erfüllten: die nämlich, irgend einen Bewußtseinsinhalt im Sehenden oder Hörenden durch Anregung seiner Phantasie zu erwecken. Die Aeußerung dieser Sinnesart, gegen die sich nun eine Gegnerschaft kräftiger und kräftiger erhebt, war für die Genießenden eine immer geringere Wertschätzung der Kunst, — die man mehr und mehr nur als eine Art von „Vergnügung“ wenn nicht zu bezeichnen, so doch zu denken sich gewöhnte — und für die Schaffenden eine höhere und höhere Wertschätzung und Hervorkehrung des dekorativen Elements.


* Der Nachdruck von längeren wie kürzeren Eigenbeiträgen des „Kunstwarts“ ist vom Verlage nur unter deutlicher Quellenangabe gestattet.

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